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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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ehrfürchtigem Schauder blicken sie auf die komplexen Apparaturen. Diesen ungeheuren Zuwachs an Erfahrungen wirfst du über Bord, wenn du es allein erlebst und erleidest. Meine Mutter redete auf mich ein: Bevor ich sterbe, würde ich dich so gerne verheiratet sehen, mit einem netten Mädchen, das dich liebt und pflegt, wenn dir etwas zustößt. Du musst bedenken, mein Sohn (ich war der »mein Sohn« meiner Mutter, so wie Carmen die »meine Tochter« meines Vaters war), dass du heute vor Kraft strotzt, weil du jung und gesund bist, die Jugend denkt nur an das Heute, sieht nicht, dass auch die Blätter des Kalenders fallen. Du lachst, aber wenn es so weit ist, wirst du sehen, wie sehr man einer Stütze bedarf. Wie man mit den Jahren immer mehr Zärtlichkeit braucht. Jemanden, der bei dir ist und dir im letzten Augenblick die Hand hält (was soll man bei einem Sterbenden schon anderes halten). Und wenn du sie so sprechen hörst, die Leute, deine Mutter, bekommst du es mit der Angst zu tun, und du siehst dich – in der Tat – im Bett, kannst nicht aufstehen, siehst, wie du dich an die Stuhllehnen klammerst, um dich durchs Haus zu bewegen, wie du dich an den Wänden abstützt, um zur Toilette zu gelangen, durchtränkt von ranzigem Altersschweiß; oder du bekommst keine Luft, weil du dich an etwas verschluckt hast, an einem halb zerkauten Stückchen Tafelspitz, einem Schluck Wasser, Brotkrumen, oder an einer der Pillen, die du schluckst gegen Bluthochdruck, zur Blutverdünnung, gegen das Cholesterin, gegen die Überzuckerung; du erstickst an deinem eigenen Speichel: Du hustest, schnappst nach Luft, und da ist niemand bei dir, der deinen Rücken klopft oder dir die Finger in den Mund steckt und dir hilft, das, was da feststeckt, loszuwerden, jemand, der die 112 wählt oder dich in ein Auto steckt und mit dir zum Hospital oderzum nächsten Gesundheitszentrum rast. Die Einsamkeit, Liliana, das ist das Schlimmste, meinen die Leute. Was soll ich sagen. Möglicherweise ist sie das sogar, denn schließlich und endlich ist die Einsamkeit – wie die Nacktheit, die Unterernährung, die Hitze oder die Kälte – nur eine weitere Erscheinungsform des wahren Übels, ein Übel, das es zu bekämpfen gilt, grauenvoll, das jeder Mensch mit ein klein bisschen Verstand um jeden Preis vermeiden muss: die Armut, ja, Liliana, das ist das einzig wahrhafte Übel seit Anbeginn der Welt, dir brauche ich das nicht zu erzählen, du weißt Bescheid. Vor was bist du geflohen, wem wolltest du entkommen, als du hierherkamst. Der Philosoph sagte: Ich bin ich und meine Lebensumstände. Gut gesagt. Stell dir also vor, Ich ist das Geld, das dir erlaubt, deine Lebensumstände zu finanzieren; fehlt das Geld, stehst du mit einem leeren Ich da, eine bloße Hülle ohne jeden vernünftigen Umstand: Da verlässt dich diese hilfreiche Hand, die dir auf den Rücken klopfen wollte, damit du das halb gekaute Stück Hühnchen ausspucken kannst, das dir gerade die Glottis verschließt (nein, das sage ich nicht wegen dir, Liliana, wie kommst du nur darauf, ich meine das im Allgemeinen, ich weiß doch, du würdest mich nie verlassen); wenn du es aber hast, wenn du Geld hast, kannst du für die Begleitung zahlen, einen Pfleger, eine Krankenschwester. Du kannst für die Pediküre zahlen, eine Person, die dir bis ganz zuletzt die Verhornungen behandelt und dir die Fußnägel schneidet – eine Aufgabe, die dir immer schwerer fällt – und sie dir feilt, damit sie sich nicht biegen und ins Fleisch bohren, ein zartfühlender Fachmann, der sich deinen Hühneraugen widmet und diese gefährlichen Schwären an der Fußsohle behandelt, die bei erhöhtem Blutzucker chronisch zu werden drohen, und wenn sie nicht weggehen oder sich gar ausbreiten, können sie brandig werden und eine Amputation des Fußes erforderlich machen; mit Geld kannst du dir einen Masseur leisten und einen Friseur, der dich im Bett rasiert und dir die Haare schneidet, einen Dealer aus der Pharmabranche, der dir die effektivsten Beruhigungsmittel besorgt, mit denen duvor der Zeit den Himmel berühren, die himmlischen Glöckchen hören und die weichen Flügel der Engel bestaunen kannst (weißt du eigentlich, dass in einer Kirche hier in der Nähe eine Feder des Erzengels Michael verehrt wird?), und du kannst dir ein Model leisten (verzeih die brutale Sprache, Liliana), das dir einen runterholt. Und das alles in einem komfortablen Haus oder in einer Luzerner Klinik, ein lichtdurchflutetes Zimmer mit Blick auf

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