Am Ufer (German Edition)
jeglicher Veränderung zurückschrecken. Groll ist eine gute Methode, sich eine sichere Begleitung zu verschaffen; wenn man sich Abend für Abend Beleidigungen an den Kopf schleudern kann, sorgt das für Stabilität. Die Leute überlegen es sich: Was tun? Allein bleiben? Hörst du sie reden, scheint das für sie das Allerschlimmste zu sein: Allein zu bleiben. Einsamkeit. Verlassenheit. Traurige Worte, bedrohlich. Schrecklich: Du wirst schon sehen, wie es ist, als Junggeselle alt zu werden. Sie machen mir Angst. Sie sagen: Wenn du so weitermachst, bleibst du allein. Furchterregend, allein zu sterben, wie ein Hund, sagen sie. Das Unglück schlechthin; klar, man muss sterben, jedermann muss sterben, aber, bitte schön, begleitet, nicht wie ein Hund. Allein zu sterben, ist verheerend, geradezu schamlos, es offenbart einen Mangel des menschlichen Wesens (menschliches Wesen, so würde Francisco sagen, der Ausdruck greift ans Herz), der muss vertuscht, im Halbschatten verschummert werden, hinter dem Wandschirm verborgen, den man im Gemeinschaftssaal des Hospitals auffährt, wenn etwas Unschönes mit dem Kranken gemacht wird. Andererseits könnte man auch sagen, dass allein zu sterben ein gewisses Maß an Präpotenz ausdrückt, etwas, das man als Hoffart bezeichnen könnte. Man muss teilen, sagen sie, das heißt, um Liebe betteln, um Mitleid, die Begleichung alter Rechnungen einfordern: Ich hab dich aufgezogen, dich ernährt, gekleidet, hab dir geliehen, gemacht, gegeben. Jetzt bist du dran. Nimm den Schwamm und das Feuchttuch und reib dieses fleckige Fleisch ab, gib mir etwas von dem zurück, was ich dir gegeben habe. Bezahle etwas von dem, was du mir schuldest. Der Erfolg eines Lebens wird mit einem gut abgeschlossenen Lebenszyklus, wie man es nennt, gleichgesetzt und läuft darauf hinaus, alle um dein Bett zu versammeln. Sie in deinen Dienst zu stellen, ganz, ganz viele zu haben, die bereit sind, dir mit dem Feuchttuch den Arsch abzuwischen. Je mehr, desto besser. Als sei die Intensivstationeine Weihnachtsfeier, zu der die ganze Familie herbeieilt, der bewegende Moment, in dem Eltern, Kinder, Enkel, Vettern, Nichten und Neffen
Stille Nacht
singen und die Schellenschwinger mit den Kaffeelöffelchen an den Anisflaschen schaben und die Hirten die Schnarrtrommel spielen, als wärst du gar nicht da mit deinen Schläuchen, deinen Sonden und deiner Sauerstoffmaske und den Nadeln, die dich durchlöchern, ein heiliger Sebastian oder dieser arme Stier von Tordesillas, den alle Tölpel des Städtchens Lanzen schwingend verfolgen. Was bedeuten dir in einem solchen Augenblick die anderen? Werden auch sie mit Lanzen und Banderillas traktiert? Oder handelt es sich – erneut das Reich der Ökonomie – nur darum, nicht vor leerem Theatersaal etwas so Erschütterndes wie eine Agonie aufzuführen. Die Vorstellung rentabel gestalten. Großzügig die Sitzplätze verteilen für die Teilnahme am Übertritt, ein Spektakel mit Hochspannung und praktischem Nutzen für die Tour des Lebens. Die Energie der letzten Momente rentabel einsetzen. Dabei allein oder begleitet zu sein erscheint ihnen entscheidend für den Sinn ihres Lebens. Verwandte und Nachbarn sollen die Blutergüsse, die blauen Flecke, die Hautblutungen und die unzähligen kleinen Wunden sehen, die durch jene spitzen Apparaturen hervorgerufen werden, über diesen intravenösen Zugang, der dich durchbohrt und dir den Handrücken schwarz färbt, über den man dir Serum und Gifte zuführt; über die Sonden, Kanülen, die Dränagen, mit denen irgendeinem Teil deines Körpers schleimige Flüssigkeiten entzogen werden; die Saugnäpfe auf der Brust an jenen Stellen, wo die Krankenschwester mit dem Rasierapparat die Haare entfernt hat, was Streifen von blässlicher Haut hinterlassen hat, das Wirrwarr der Kabel und Schläuche, die von überall ausgehen, sogar vom Daumen; der Ventilator, den sie dir in die Nase oder gleich in eine Perforation am Hals gesteckt haben, das schimmernde Metall der Tragen und der Tropfe, die Plastikbeutel mit ihren beunruhigen den Flüssigkeiten, Seren und Lösungen, die direkt ins Blut gehen, diese ganze gewaltige Investition in sanitäre Produkte.Die Besucher betrachten den kaum erkennbaren Sterbenden (wie dünn er doch geworden ist, die schlechte Hautfarbe: seine Haut ist ganz grau, da kommt er nicht heil wieder raus), und quasi nebenbei bewundern sie die technische Entwicklung, den Fortschritt des Krankenhaussystems in der Abteilung für letale Fälle, mit
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