Am Ufer (German Edition)
das blieb dem überlassen, der ihn nicht liebte und auch nicht geliebt wurde, der ihn auch nicht gerngehabt hat oder hatte, der ihn nicht gernhat. Es war die bloße Fortführung der Arbeit in der Schreinerei, die Funktionsweise der Gesellschaft. Da siehst du, dass die unter nehmerischen Zwänge engere Bande als die der Liebe sind. Wechselnde Erscheinungsformen des Stiefvaters Geld. Sie hat wiederholt am Telefon geweint, wenn ich ihr erzählte, dass unser Vater allmählich nur noch dahinvegetiere. Er sprach nicht, schien auch nicht zu verstehen, und man musste alles für ihn machen, ihn waschen, füttern, ins Bett legen und aus dem Bett heben. Wie traurig. Sie weinte. Sie hatten einander lieb. Es war wirklich mitleiderregend. Es machte einen fertig. Dieses telefonisch übermittelte Geheule. Selbst mir kamen die Tränen, dabei bin ich nicht besonders weinerlich. Aber herkommen, das tat sie nicht: Nur die Tränen kamen. Für den Fall, dass ich sie nicht durchs Telefon hindurch wahrnahm, falls sie die nicht über fast fünfhundert Kilometer Kupferoder Glasfaserkabel, die uns trennten, vermitteln konnte, stockte sie beim Sprechen, seufzte, schwieg eine kleine Weile, räusperte sich, nahm das Gespräch wieder auf, mit noch heiserer Stimme (klare Hin weise, sie weinte, ein Knoten im Hals, Kummerseufzer): Du musst dir jemanden suchen, allein wirst du das nicht schaffen, die Pflege, die Werkstatt, Kochen, Geschirrspülen, die Waschmaschine anstellen, die Wäsche aufhängen. Aber klar, das werde ich nicht schaffen, klar auch, dass ich mir jemanden suchen muss. Darüberaber, wer diesem Jemand (der dann du geworden bist) die acht Euro pro Stunde zahlt, oder ob man eine Festanstellung anvisieren sollte, um den ganzen Tag abzudecken, und wie teuer das dann käme, darüber verlor sie kein Wort. Seufzer, großes Leid. Sie verhielt sich so, als sei es geschmacklos, den Schmerz mit Finanziellem zu beflecken, Kindes liebe mit Geld zu mischen, das Ausmaß der Liebe an einem mickrigen ökonomischen Beitrag zu messen. Nein, nein, die Liebe hat keinen Marktwert. Sie ist innig, leise. Frei von Zwängen. Über Geld haben wir nicht gesprochen. Vor Monaten dann, als bei ihm die Bronchien blockiert waren und er in die Notaufnahme musste und man ihn wieder an die Sauerstoffflasche anschloss und er erneut eine Woche im Krankenhaus war, habe ich sie angerufen, mehr um sie ein wenig zu ärgern, denn mit irgendeiner Art von Unterstützung rechnete ich nicht, und wie vermutet, gab es nichts als Ausreden: der Mann, die Kinder, das Geld, alles hatte sich gegen sie verschwo ren. Sie bemühte sich nicht einmal mehr zu weinen. Eine Litanei von Hindernissen, ich bin schon ganz hysterisch, ein andermal erzähl ich’s dir in aller Ruhe, was ich für ein Chaos um mich habe, eine Baustelle, das alte Rohrsystem wird ausgetauscht, und du weißt ja, dass Pedro (mein Schwager) voll in der Arbeit steckt und mir nicht hilft, mir gar nicht helfen kann, und so muss ich mich mit Klempnern und Maurern herumschlagen, darauf achten, dass sie nicht pfuschen, und dann der ganze Dreck, den sie reintragen, und was sie von uns verlangen, wie wir das zusammenkratzen sollen, ist mir noch schleierhaft. Kurzum, bei uns ist Carmen nicht aufgetaucht. Die Arme, hatte ja selbst so viel am Hals. Nach sechs oder sieben Tagen rief sie an, und bevor ich noch etwas sagen konnte, kam sie mir zuvor: Es geht ihm doch besser, nicht wahr (bei dieser Gelegenheit war die Stimme hell, hoffnungsfroh, morgenfrisch: die Stimme eines sonnigen, klaren Morgens – ein Wintermorgen wie heute mit diesem strahlend blauen Himmel, der über dem Sumpfgelände schwebt –, eine frische Brise pustete jeden Schatten der Tragödie hinweg)? Und wieder: Hast du jemanden gefunden, der sichum ihn kümmert und ihn pflegt? Du kannst ihn nicht sauber und seine Wäsche in Schuss halten, ihm das Essen kochen. Sie sorgte sich um den Alten, und sie sorgte sich um mich. Das muss man anerkennen. In der Tat, ich konnte ihn nicht sauber halten, auch nicht an Hemden und Hosen die Knöpfe wieder annähen, die er sich, sobald er nervös wurde, weil ich nicht bei der ersten herrischen Geste, beim ersten Knurren heraneilte, mit Prankenschlägen abriss; wahrscheinlich war ich nicht einmal fähig, mich selbst sauber zu halten, und das bereitete ihr schlaflose Nächte. Sie bot mir die Lösung: Stellt jemanden an, der für euch sorgt. Wie lieb von ihr. Lass uns jemanden anstellen, der dafür sorgt, dass wir sauber und wohlgenährt
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