Am Ufer
klappern ja die Zähne vor Kälte. Du brauchst nicht teilzunehmen«, sagte er.
»Bleibst du?«
»Ich bleibe. Dies ist mein Leben.«
»Dann möchte ich auch teilnehmen«, antwortete ich, obwohl ich lieber weit weg von dort gewesen wäre. »Wenn das deine Welt ist, möchte ich lernen, daran teilzuhaben.«
Die Gruppe sang immer noch. Ich schloß die Augen und versuchte der Musik zu folgen, obwohl ich nicht gut Französisch konnte. Ich sprach die Worte nach, ohne sie zu verstehen. Das ließ die Zeit schneller verstreichen.
Bald würde das hier zu Ende sein. Dann könnten wir endlich nach Saint-Savin zurückkehren, nur wir beide.
Ich sang mechanisch weiter. Ganz allmählich spürte ich, wie die Musik sich meiner bemächtigte, als hätte sie eigenes Leben, als könnte sie mich hypnotisieren. Ich spürte weder die Kälte noch den Regen – und dachte nicht mehr daran, daß ich keine Wäsche zum Wechseln dabeihatte. Die Musik tat mir gut, sie ließ meinen Geist fröhlich werden, trug mich in eine Zeit zurück, in der Gott mir näher war und mir geholfen hatte. Als ich mich fast ganz hingegeben hatte, verstummte die Musik.
Ich öffnete die Augen. Dieses Mal war es nicht der Wärter, sondern ein Pater, der wandte sich an einen Priester aus der Gruppe. Sie redeten leise miteinander, und der Pater ging wieder.
Der Priester wandte sich an uns.
»Wir müssen unsere Gebete auf der anderen Seite des Flusses sprechen«, sagte er.
Schweigend gingen wir zu der uns angewiesenen Stelle. Wir überquerten die fast gegenüber der Grotte liegende Brücke und gelangten auf das andere Ufer. Dort war es schöner: Bäume, eine große Wiese und der Fluß – der jetzt zwischen uns und der Grotte lag. Von dort aus konnten wir das erleuchtete Bildnis der Heiligen Jungfrau besser sehen und, ohne das unangenehme Gefühl zu haben, das Gebet der anderen zu stören, die Stimme freier erklingen lassen.
Die ganze Gruppe schien das auch so zu empfinden: alle begannen, das Gesicht zum Himmel gewandt, lauter zu singen. Und sie lächelten, während der Regen ihnen übers Gesicht rann.
Jemand hob die Arme, und schon hatten alle die Arme erhoben und wiegten sich im Rhythmus der Musik.
Ich versuchte angestrengt, es ihnen gleichzutun – doch ich wollte auch aufmerksam verfolgen, was sie machten. Ein Priester neben mir sang auf spanisch, und ich begann seine Worte zu wiederholen. Es waren Anrufungen des Heiligen Geistes, der Heiligen Jungfrau – sie möchten gegenwärtig sein und ihren Segen und ihre Kraft über einen jeden von uns ausgießen.
»Möge der Heilige Geist über uns kommen«, sagte ein anderer Priester und wiederholte den Satz auf spanisch, italienisch und französisch.
Was dann geschah, überstieg mein Verständnis. Jeder der Anwesenden begann, in einer unbekannten Sprache zu sprechen. Es klang wie eine Sprache mit Worten, die direkt aus der Seele zu kommen schienen und keinen logischen Sinn ergaben. Mir fiel kurz unser Gespräch in der Kirche ein, als er mir von der Erleuchtung erzählt hatte – daß nämlich alle Weisheit darin bestand, auf seine eigene Seele zu hören.
›Vielleicht ist dies ja die Sprache der Engel‹, dachte ich, während ich versuchte, es ihnen nachzutun – und mir lächerlich vorkam.
Alle schauten auf die Heilige Jungfrau auf der anderen Seite des Baches und waren wie in Trance. Ich suchte ihn mit dem Blick und entdeckte ihn unweit, wie er, die Hände zum Himmel erhoben, dieselben schnellen Worte sprach; es klang, als würde er ein Gespräch mit ihr führen. Er lächelte, nickte mal zustimmend, dann wieder überrascht. ›Das ist also seine Welt‹, dachte ich. All das erschreckte mich. Der Mann, den ich an meiner Seite haben wollte, sagte, daß Gott auch eine Frau war, redete unverständliche Sprachen, war in Trance und schien den Engeln nah. Das Haus in den Bergen wurde immer unwirklicher, als gehörte es einer Welt an, die er weit hinter sich gelassen hatte. All die Tage seit dem Vortrag in Madrid waren mir wie ein Traum vorgekommen, eine Reise außerhalb der Zeit und des Raumes meines Lebens. Dennoch hatte dieser Traum den Geschmack der weiten Welt, des Romans, neuer Abenteuer. Sosehr ich mich auch wehrte, so wußte ich doch, wie leicht das Herz einer Frau in Liebe entflammt und daß es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie den Wind ungehindert brausen und das Wasser die Mauer des Staudamms zerstören ließe. Ich mochte mich noch sehr wehren und glauben, daß ich aus vergangenen Verliebtheiten
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