Am Ufer
einst den Brunnen in der Mitte des Platzes gefunden – und Saint-Savin sei ursprünglich als Zufluchtsort für die Mönche entstanden, die das Leben in den Städten aufgegeben hatten und auf der Suche nach Gott in die Berge gekommen waren.
»Sie sind immer noch da«, sagte ein anderer.
Ich wußte nicht, ob diese Geschichte stimmte, und wußte auch nicht, wer ›sie‹ waren.
Immer mehr Leute kamen hinzu, und die Gruppe machte sich zum Eingang der Grotte auf. Ein älterer Mann versuchte, mir etwas auf französisch zu sagen. Als er merkte, daß ich ihn nicht verstand, wechselte er in ein holpriges Spanisch.
»Sie befinden sich in Begleitung eines ganz besonderen Menschen«, sagte er. »Dieser Mann tut Wunder.«
Ich antwortete nicht darauf, doch mir fiel die Nacht in Bilbao ein, als der verzweifelte Mann ihn angesprochen hatte. Damals hatte er mir nicht gesagt, wohin er ging, und es hatte mich auch nicht weiter interessiert. Meine Gedanken kreisten jetzt um ein Haus, von dem ich genau wußte, wie es aussah. Ich wußte, welche Bücher es darin gab, welche Platten, wie die Landschaft und die Einrichtung waren.
Irgendwo auf der Welt wartete ein ganz reales Haus auf uns, irgendwann. Ein Haus, in dem ich ruhig auf ihn warten würde. Ein Haus, in dem ich auf ein Mädchen oder einen Jungen warten würde, die von der Schule zurückkamen und es mit ihrer Fröhlichkeit und ihrer Unordnung erfüllten.
Die Gruppe ging schweigend im Regen, bis wir am Ort der Erscheinungen angelangt waren. Er sah genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: eine Grotte mit dem Bildnis der Heiligen Jungfrau und hinter einer Glasscheibe die Quelle, wo das Wunder des Wassers sich vollzogen hatte. Einige Pilger beteten, andere saßen schweigend und mit geschlossenen Augen in der Grotte. Vor der Grotte floß ein Bach entlang, und das Rauschen seines Wassers beruhigte mich. Als ich das Bildnis sah, sprach ich ein schnelles Gebet; ich bat die Heilige Jungfrau, mir zu helfen, weil mein Herz nicht noch mehr leiden wollte.
›Wenn der Schmerz doch kommen sollte, dann möge er schnell kommen‹, sagte ich. ›Denn vor mir liegt ein ganzes Leben, und ich muß es so gut wie möglich nutzen. Wenn er eine Wahl treffen muß, dann soll er es gleich tun. Dann warte ich auf ihn. Oder ich vergesse ihn. Warten tut weh. Vergessen tut weh. Doch nicht wissen, wofür man sich entscheidet, das ist das schlimmste Leiden.‹
Tief im Inneren meines Herzens fühlte ich, daß sie meine Bitte erhört hatte.
Mittwoch, 8. Dezember 1993
Als die Uhr der Basilika Mitternacht schlug, war die Gruppe um uns herum schon stark angewachsen. Wir waren fast hundert, unter uns auch Priester und Nonnen, die alle im Regen standen und auf das Bildnis schauten.
»Gegrüßt seist du, Heilige Mutter Maria der Unbefleckten Empfängnis!« sagte jemand neben mir, als der letzte Glockenton verklungen war.
»Gegrüßt seist du, Maria«, antworteten alle.
Ein Wärter stürzte herbei und bat uns, keinen Lärm zu machen, wir würden die anderen Pilger stören.
»Wir kommen von weit her«, sagte ein Mann aus unserer Gruppe.
»Die da auch«, antwortete der Wärter und wies auf die anderen Leute, die im Regen beteten. »Und sie beten schweigend.«
Ich hoffte inständig, daß der Wärter endlich gehen würde. Ich wollte allein mit ihm sein, weit von hier, seine Hände halten und sagen, was ich fühlte.
Wir mußten über das Haus reden, Pläne schmieden, über die Liebe reden. Ich mußte, was mich betraf, seine Zweifel zerstreuen, ihm meine Zuneigung zeigen, ihm sagen, daß er seinen Traum verwirklichen konnte – denn ich würde an seiner Seite sein und ihm helfen.
Dann entfernte sich der Wärter, und ein Priester begann leise den Rosenkranz zu beten. Als wir beim Credo angelangt waren, das die Reihe der Gebete abschließt, schwiegen alle mit geschlossenen Augen.
»Wer sind diese Leute?« fragte ich.
»Charismatiker«, sagte er.
Dieses Wort hatte ich schon gehört, wußte aber nicht genau, was es bedeutete.
»Das sind Leute, die das Feuer des Heiligen Geistes annehmen«, sagte er zur Erläuterung. »Das Feuer, das Jesus hinterlassen hat und an dem nur wenige ihre Kerzen angezündet haben. Es sind Leute, die der Wahrheit nahe sind, wie zu urchristlichen Zeiten, als alle noch Wunder tun konnten. Es sind Leute, die von der Frau im Sonnenmantel geführt werden.« Und er deutete mit dem Blick auf die Heilige Jungfrau.
Wie auf einen geheimen Befehl begann die Gruppe leise zu singen.
»Dir
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