Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)
einzelnen Zellen führt zum Gedeih und zum Wachsen des Gesamtkörpers.
Doch je komplexer ein Organismus ausgebildet ist, desto anfälliger wird er für Störungen. Fällt ein kleines Rädchen aus, muss es schnell erneuert werden, sonst steht alles still. Sonst bricht alles zusammen. Das ist das Aufgabengebiet meines Sohnes.
Jeder komplexe Organismus ist empfindlich. Er kann Schaden nehmen, wenn seine Umgebung sich ändert. Und: Es gibt nicht einen Organismus, der keine Feinde hat. Manchmal sind es Fressfeinde, also die Konkurrenz, aber wesentlich gefährlicher sind Viren und Bakterien, die den Organismus befallen, ihn schädigen und ihn zerstören, wenn nicht die richtigen Medikamente verabreicht werden.
Darüber wache ich.
Ich habe genug zu tun.
25. Stuttgart, Denglers Büro, vormittags
Georg Dengler wischt noch einmal ein nicht vorhandenes Staubkorn von der Gummiunterlage seines Schreibtisches, rückt das Telefon gerade und setzt sich betont locker in den Sessel. Er streicht sich über die Stirn und sieht auf die Tür, steht auf, geht unruhig zum Fenster, setzt sich wieder in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch und wischt erneut über die Schreibunterlage. Olga klopft und bringt einen bunten Strauß Frühlingsblumen in einer grünen Glasvase ins Zimmer.
»Wenn Dr. Schmidt kommt, wird er sehen, was für ein kultivierter Mann du bist.«
Sie zupft die Blumen zurecht.
Dengler lächelt gequält. »Wenn er mir den Auftrag erteilt, haben wir keine Sorgen mehr …«
Sie küsst ihn auf die Stirn.
»Ich habe keine Sorgen. Und jetzt bin ich für eine Stunde deine Chefsekretärin, ein richtiger, legaler Beruf.«
»Leider schlecht bezahlt.«
»Gar nicht bezahlt.«
Er küsst sie.
Es klingelt, laut und lang und aggressiv.
»Dein neuer Kunde kommt zwar pünktlich, aber im falschen Augenblick.«
Olga löst sich von Dengler, wischt ihm den Lippenstift vom Mund.
»Also, alle auf die Plätze. Der Big Boss erscheint.«
Dengler nimmt das Handy und schreibt seinem Sohn eine SMS :
Hallo Jakob, guten Morgen, alles klar in Barcelona?
Dann setzt er sich hinter seinen Schreibtisch, holt eine Akte aus der Schublade und tut so, als studiere er sie, nimmt einen Bleistift und schreibt kleine Randbemerkungen auf das erste Blatt.
»Bravo, so sieht ein überbeschäftigter Privatdetektiv aus.«
Olga prüft im Spiegel Make-up und Frisur. Dengler hört, wie sie die Treppen hinuntergeht und unten die Tür öffnet. Er runzelt die Stirn und nimmt die Akte wieder auf und tut so, als lese er angestrengt darin. Sein Telefon summt kurz, er nimmt es an sich und liest die eingegangene SMS :
Hallo Papa, alles gut hier. Wir gehen heute an den Strand und am Nachmittag gucken wir uns die Altstadt an. Gruß an Olga. Jakob
Die Tür springt auf.
»Überraschung«, sagt Olga kalt.
Hinter ihr erscheint – Hildegard.
Sie ist kreidebleich und sieht übernächtigt aus.
Mit wenigen Schritten steht sie vor seinem Schreibtisch.
»Gut, dass du da bist. Ich hab die ganze Nacht versucht, mit Jakob zu telefonieren. Er geht nicht ans Telefon. Er schreibt nur diese beschissenen SMS .«
Denglers Rücken verspannt sich. Er will etwas sagen, aber sie ist schneller. Wie immer.
»Wenn du dich schon nicht freiwillig um deinen Sohn kümmerst, dann engagiere ich dich. Was muss ich bezahlen, damit du dich um deinen Sohn kümmerst? Was kostet es, dass du rausfindest, was mit Jakob los ist? Los, sag: Was muss ich bezahlen?«
Sie greift in ihre Handtasche und zieht ein Bündel Hundert-Euro-Geldscheine hervor.
»Ich war auf der Bank. Ich habe Geld. Was kostest du? Los, sag mir, was kostet es mich, dass du dich um deinen Sohn kümmerst?«
Sie knallt das Geld auf den Schreibtisch, zwei Banknoten segeln langsam auf den Boden.
»Raus! Du bist ja völlig hysterisch. Eben hat Jakob mir eine SMS geschickt. Es geht ihm gut. Unser Sohn ist erwachsen. Ich habe mit dir nichts mehr zu schaffen. Verschwinde! Verschwinde aus meinem Leben! Und zwar jetzt! Und für immer.«
»Keine Angst. Ich will nichts von dir. Aber ich will, dass du Jakob suchst. Das kannst du doch! Menschen jagen, das kannst du doch. Das ist doch dein Ding. Such jetzt Jakob.«
»Du bist völlig durchgeknallt. Du musst lernen loszulassen.«
»Ich zahle. Ich zahle, was du willst.«
»Wenn du in einer Minute nicht draußen bist, schmeiße ich dich raus. Ich erwarte einen wichtigen Kunden, der …«
»Ach, zahlt er dir mehr als ich? Ist das hier nicht genug?«
Sie nimmt die Geldscheine und wirft sie
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