Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)
zählten die Jahre dazwischen nicht.
Der Flur sieht aus wie früher, der Garderobenständer, an den er sich erinnert, ist durch eine Holzleiste ersetzt worden, die grüne Holzkiste steht noch am selben Platz im Flur. Links die Tür: Hildegards Schlafzimmer. Geradeaus geht es zur Küche und zum Wohnzimmer, und rechts ist die Tür zu Jakobs Zimmer.
Vor dieser Tür bleibt Hildegard stehen. Sie legte eine Hand auf die Türklinke, zieht sie wieder zurück und dreht sich unsicher um. »Jakob wird es nicht mögen, dass wir in sein Zimmer gehen, wenn er nicht dabei ist. Er legt wirklich allergrößten Wert darauf, dass ich seine Privatsphäre achte.«
Kein Wunder, denkt Dengler.
Dann sagt er: »Ich suche einen Anhaltspunkt. Jakob ist vielleicht in etwas verwickelt. Ich muss wissen, womit er sich beschäftigt hat, wen er getroffen hat. Ich muss hier vorgehen wie bei jedem anderen Fall.«
»Du meinst, er hat etwas verbrochen?«
»Ich hoffe nicht, Hildegard, aber ich muss mir ein Bild machen. Ich muss mich in ihn hineinversetzen. Dazu muss sich sein Zimmer sehen.«
Sie tritt vorsichtig zur Seite. »Bring aber nichts durcheinander.«
Dengler seufzt. Dann tritt er in das Zimmer seines Sohnes. Er bleibt direkt hinter der Tür stehen und sieht sich um.
Das Kinderbett ist durch ein modernes Jugendbett mit Metallgestell ersetzt worden.
Das Bücherregal steht noch an seinem alten Platz. Dengler lässt den Blick über die Buchrücken streichen. Er lächelt, als er den Fotoband über die Wilhelma erkennt, den er Jakob einmal geschenkt hat.
Auf der rechten Seite steht eine alte Holzkommode, daneben Jakobs Schreibtisch, viel größer, auch neu, und gegenüber ein Kleiderschrank aus hellem Holz. Keine Plakate oder Poster an den Wänden. Neben dem Schrank befindet sich ein weiterer Tisch, auf dem ein älterer Laptop steht. Daneben ein Regal mit CD s. Keine Musik- CD s, stellt Dengler fest, beschriftete Rohlinge: »Mathe II « steht auf einem, »Englisch« auf dem anderen. Schulsachen also. Es gibt zwei Boxen, deren Kabel nicht in eine Stereoanlage münden, sondern in den Rechner. Auf der Ablage liegt ein riesiger Kopfhörer, der ebenfalls an den Laptop angeschlossen ist.
Ein aufgeräumtes Jungenzimmer. Ziemlich aufgeräumt. Er hat Jakobs Zimmer chaotisch in Erinnerung mit herumliegendem Holzspielzeug, Kinderbüchern, Bällen, Buntstiften und bemaltem Papier. Jetzt wirkt das Zimmer nüchtern, fast wie die Klause eines Mönchs.
Jakob hat sich verändert.
Oder hat er das Zimmer aufgeräumt, weil er in Urlaub gefahren ist? Weil er nicht wollte, dass seine Mutter in seiner Abwesenheit etwas findet?
Die Tür geht leise auf, Hildegard huscht herein.
»Hast du etwas gefunden?«, fragt sie flüsternd.
Dengler schüttelt den Kopf.
Er bückt sich vor dem Schreibtisch und zieht die oberste Schublade auf: Bleistifte, Radiergummi, Hefter, Locher, Kugelschreiber. In der zweiten Schublade liegen Schulhefte. Dengler blättert sie einzeln durch. Biologie, Latein, Deutsch – nichts Besonderes.
In der dritten Schublade liegen einige Bücher. Sonst ist da nichts. Er öffnet den Kleiderschrank. Es ist fast beruhigend, dass die Strümpfe einzeln und zerknautscht in einem Regal liegen, die Unterhosen türmen sich im zweiten, einige allerdings sind akkurat übereinandergestapelt. Im untersten Regal liegen zwei offensichtlich bereits getragene schwarze Jeans. Er tastet die Regale ab, er greift in die Hosen, findet einige Geldstücke. Systematisch sucht er den Schrank ab – nichts.
In der Kommode findet er T-Shirts. Sie gehören Jakob, kein Zweifel, er erinnert sich, dass sein Sohn einige davon getragen hat, als sie sich getroffen haben. Mit der flachen Hand fährt er die Schubladen entlang. In der untersten stößt seine Hand gegen etwas Hartes: er greift zu und zieht einen Stapel länglicher Aufkleber hervor. Auf gelbem Grund ist mit schwarzer Schrift geschrieben:
Dieses Fleisch stammt aus Massentierhaltung. Sie vergiften damit sich und Ihre Familie!
Dengler sucht weiter, aber der Aufkleber ist das einzig Ungewöhnliche in Jakobs Zimmer.
»Kennst du diese Aufkleber?«, fragt er Hildegard.
»Ich hab sie in der Kühltruhe beim Rewe-Markt schon einmal gesehen. Ich wollte ein Hähnchen kaufen, und da klebte genau so ein Zettel.«
»Hatte Jakob Kontakte zu radikalen Tierschützern?«
»Radikale Tierschützer? Nein.«
»Ist dir sonst eine wichtige Veränderung an Jakob aufgefallen?«
Hildegard bricht plötzlich in Tränen aus. »Er hat
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