Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)
Salat.«
Die Kamera streift an der Stallwand entlang. Ein Vogel ragt aus der Masse der Tiere heraus. Er wirkt erhöht, als stehe er auf einem Podest. Jetzt erkennt Dengler, dass das Tier auf einem toten Artgenossen steht, der schon halb in dem Gemisch aus Kot und Streu festgetreten ist. Dem toten Tier sind handtellergroß an Bauch und Brust die Federn herausgerissen. Die umstehenden Vögel picken in das tote Fleisch.
Und wieder hört er die Stimme seines Sohnes: »Unter diesen grausamen Bedingungen werden die Tiere zu Kannibalen. Sie fressen die Kadaver ihrer toten Artgenossen. Und später landet das halb verweste Fleisch in Ihrem Körper, in Ihrem Magen und in Ihren Därmen.«
Die Kamera streift wieder über das weiß-rote Meer der Puten. Willkürlich greift sie einzelne Tiere heraus. Einige können nicht mehr stehen. Andere klettern über sie. Die meisten hecheln mit offenem Schnabel.
»Diese Vögel sind von Natur aus weder Kannibalen, noch picken sie Artgenossen. Es sind Weidetiere, die großzügigen Auslauf brauchen. Das hier hat nichts damit zu tun. Es ist gegen die Natur, gegen jede Natur.«
Im Großformat erscheint eine Pute, die sich offenbar vor der Kamera fürchtet und zu flüchten versucht. Die Pute ist vor Schmutz völlig verkrustet. Immer wieder kippt das Tier zur Seite. Aus dem Off hört Dengler die Stimme seines Sohns, der ruhig und sachlich die Bilder kommentiert.
»Diese Puten werden durch angereichertes Futter auf 20 Kilo gemästet. Sie wurden so gezüchtet, dass das Fleisch sich vor allem an der gut verkäuflichen Brust bildet. Das Knochengerüst wächst jedoch nicht in gleichem Umfang mit wie das Brustfleisch. Die Beine können das Gewicht nicht mehr tragen. Dieses Tier kann daher weder stehen noch gehen. Die riesige Brust zieht es nach unten. Viele von ihnen leiden unter Hautentzündungen und haben Eiterblasen, weil sie auf ihrer überzüchteten Brustpartie liegen.«
Es folgt eine Totale, die den Blick über das Meer der Putenköpfe lenkt.
»Nach unserer Schätzung können 97 Prozent dieser Tiere nicht mehr richtig laufen. Kein Einziges ist gesund. Wir stellten bei fast jeder dieser Puten umkapselte Eiteransammlungen an der Brust, an Rücken, Hals, Kopf und After fest. Ich wünsche jedem, der diese Tiere isst, einen guten Appetit.«
»Mein Gott«, hört Dengler Olga sagen. Sie sitzt vor dem Rechner, hält sich die Hand vor den Mund.
Mein Sohn, denkt Georg Dengler. Was machst du da? Was in aller Welt machst du in einem Putenstall?
»Einundwanzig Wochen dauert dieses Leben. Dann folgt das.«
Aus einer Seitenperspektive sieht der Zuschauer, wie ein Lkw mit Käfigaufbauten vor der Mastanlage vorfährt. Ihm folgt ein Kleinbus mit Anhänger. Aus dem Kleinbus steigen Arbeiter. Jemand öffnet die hintere Tür der Mastanlage, und die Arbeiter laden vom Anhänger ein mobiles Fließband, dessen Anfang sie in die Masthalle schieben. Das Ende des Fließbands befestigen sie direkt vor einem der nun geöffneten Käfige. Die Männer binden sich weiße Atemmasken vors Gesicht, einige betreten die Halle, andere warten vor dem Fließband.
Schnitt.
Die Kamera hat nun ihre Position verändert. Sie blickt durch ein Fenster direkt ins Innere der Masthalle. Fünf Männer, die gelbe Plastikplanen schwenken, umkreisen die Puten. Die Tiere sind aufgeregt, einige versuchen zu flattern. Sie erheben sich schwerfällig. Die Männer treiben sie auf das Fließband am Ende der Halle. Jetzt sind die Tiere nah beieinander, eine grau-weiße Herde, die zum Fließband drängt. Die Männer treiben weiter. Sie treten nach den Tieren. Sie treiben sie mit Tritten enger zusammen. Eines der Tiere wird von einem Fußtritt hochgehoben und weggeschleudert.
Erneut Jakobs nüchterne Stimme: »Was man hier sieht, ist eindeutig: Das Treten der Tiere ist ein normaler Handlungsablauf beim Ausstallen der Puten. Es ist Routine.«
Schnitt.
Dengler sieht nun das andere Ende des Fließbandes. Pute für Pute wird aus dem Inneren der Anlage herausbefördert. Zwei Männer packen sie, und sie packen, was sie gerade erwischen, Köpfe, Flügel, Beine, und werfen sie in die Käfige. Sie werden an den Flügeln gepackt und in den Käfig gestopft. Sie werden an den Füßen gepackt und in den Käfig gestopft. Sie werden am Hals gepackt und in den Käfig gestopft. Einige kommen mit gebrochenen Flügeln auf dem Band an, andere Flügel brechen beim Stopfen in die Käfige. Beine brechen. Der Käfig wird mit den Vögeln vollgepresst. Als der erste
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