Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)
meiner Küche und trinkt meinen Kaffee, als wäre nichts gewesen.«
Zemke steht auf. »Komm, Julia, hier haben wir nichts zu suchen.«
»Setz dich wieder hin!«
»Wir gehen.«
»Carsten – der Hof gehört bald nicht mehr uns. Wir brauchen deine Hilfe«, sagt die Mutter.
»Brauchen wir nicht«, brüllt Christian Zemke.
»Setz dich hin und rede.«
Mühsam setzt sich Christian Zemke. Er stützt sich dabei mit der Hand an der Stuhllehne ab.
Vater und Sohn sehen sich an.
»Carsten, ich habe Fehler gemacht. Viele Fehler. Vielleicht kenne ich noch nicht einmal alle. Dich vom Hof zu jagen, habe ich mir nie verziehen. Der größte Fehler war, dass ich nicht auf dich gehört habe.«
Dann beginnt er zu erzählen. Lange. Sein Sohn schenkt ihm zweimal Kaffee nach.
61. Stuttgart, Denglers Büro, nachmittags
»Streich!«, meldete sich der Mann. Eine ruhige, klare Kommandostimme.
»Ich heiße Georg Dengler. Ich bin ein ehemaliger Kollege … Marlies, Sie kennen doch Marlies, gab mir Ihre Nummer …«
»Ich bin im Bilde. Es geht um Ihren Sohn, nicht wahr?«
»Ja, ich mache mir große Sorgen um ihn. Ich fürchte, ihm ist etwas zugestoßen.«
»Ich helfe einem Kollegen gerne. Auch einem ehemaligen Kollegen. Du hast immer noch einen guten Ruf, wusstest du das?«
»Nein, um ehrlich zu sein, bin ich erstaunt.«
»Kannst du morgen bei mir sein?«
»In Madrid?«
»Wo denn sonst? Calle de Fortuny, 8. Melde dich am Empfang, wenn du da bist.«
62. Stuttgart, Hildegards Wohnung, abends
»Vielleicht übertreiben wir.«
»Nein. Schau mal, Hildegard. Auf diesem Foto schickt Jakob uns ein Zeichen. Die drei Finger, das war früher unser Zeichen für …«
»Ich weiß, aber da war er fünf oder sechs. Jetzt ist er erwachsen.«
»Aber angenommen, er ist in Gefahr. Und jemand will uns zur Beruhigung ein Foto zukommen lassen. Sie zwingen Jakob zu diesem Foto. Was könnte Jakob tun? Er könnte nur dieses Zeichen senden, in der Hoffnung, dass wir es verstehen. Vielleicht ist es verrückt, aber irgendetwas sagt mir, dass da was nicht stimmt.«
Hildegard stellt zwei Gläser und eine Flasche Rotwein auf den Tisch. Dengler öffnet die Flasche, gießt ein.
»Du bist so wahnsinnig cool, Georg.«
»Ich bin überhaupt nicht cool.«
»Du warst schon immer so – überlegen.«
Hildegard nimmt das Glas und trinkt es aus. Dengler schenkt nach.
»Ich bin nicht überlegen. Hildegard, ich habe Angst. Es gibt Anzeichen, dass unser Kind in einer Situation ist, von der wir nichts wissen, die es vielleicht nicht mehr beherrscht.«
»Du hast Angst? Das wär ja das erste Mal, dass du Gefühle zeigst.«
Dengler trinkt in einem Zug fast das ganze Glas aus.
»Ich hab keine Lust mehr auf deinen Psychoterror.«
»Psychoterror! Ha! Du wolltest doch das Kind gar nicht.«
Sie füllt ihre beiden Gläser nach.
Er muss jetzt gehen. Das alte Spiel beginnt. Er hat es nie gemocht.
Er trinkt.
»Wenn es nach dir gegangen wäre, gäbe es keinen Jakob.«
Er will aufstehen, kann sich aber nicht regen. Plötzlich merkt er, dass sein Gesicht nass ist. Noch einmal versucht er vergeblich, aufzustehen – vergeblich.
Hildegard schenkt nach.
Jetzt steht er auf.
»So cool«, sagt Hildegard. »So verdammt cool.«
Dengler greift sie mit beiden Händen an der Bluse und zieht sie zu sich, sodass ihre Gesichter sich berühren. Dann umfasst er mit beiden Händen ihren Hals. Sie steht still und rührt sich nicht. Wie ein Irrer sieht er sie an.
Plötzlich greift ihr Dengler von hinten in die Haare und zieht ihren Kopf zurück. Dann küsst er sie. Verzweifelt. Sie streckt sich ihm entgegen. Mit beiden Händen greift er nach dem Kragen ihrer Bluse und reißt sie auf.
Er erinnert sich nicht mehr, wie sie in ihr Schlafzimmer kommen. Aber jetzt liegen sie auf Hildegards Bett und atmen schwer. Er spürt eine tiefe Sehnsucht nach Olga. Noch nie hat er sich so sehr nach Olga gesehnt wie in diesem Augenblick. Er sehnt sich nach ihrem Geruch, ihrem Körper, dem vertrauten Gefühl, erschöpft neben ihr zu liegen. Hier ist er fremd. Er will weg.
Er sieht zu Hildegard. Sie hat die Augen weit offen und starrt irgendwo hin. Weit weg.
»Wir können es nicht wieder zurückholen, nicht wahr?«, sagt sie leise.
»Nein«, sagt er und steht auf.
Fünfter Tag
Donnerstag, 23. Mai 2013
63. Hohenheim, Wohnung von Carsten Zemke, nachts
Julia betrachtet den Mann neben sich. Schade, dass er erst den Hof ruinieren muss, bevor er sich mit seinem Sohn versöhnen kann. Trotzdem: Sie
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