Amber-Zyklus 06 - Die Trümpfe des jungsten Gerichts
nicht«, widersprach ich. »Aber ich muß dich wegtragen. In der Nähe gibt es einen See, wenn ich mich richtig erinnere.«
Ich löste meinen Umhang, den ich mir um die Taille gebunden hatte, und breitete ihn neben ihr aus. Dann hob ich sie, so behutsam wie möglich, Zentimeter um Zentimeter darauf, faltete ihn über ihr zusammen, um sie gegen die Flammen zu schützen, und zog sie in die Richtung, die hoffentlich die richtige war.
Wir schafften es durch ein sich bewegendes Flickenmuster aus Feuer und Rauch. Meine Kehle war rauh, meine Augen tränten ständig, und meine Hose fing Feuer, als ich einen großen Schritt zurück tat und spürte, wie mein Absatz in Schlamm versank. Ich ging weiter.
Schließlich stand ich bis zur Taille im Wasser und hielt sie an der Oberfläche, indem ich sie von unten stützte. Ich beugte mich vor und schlug eine Ecke des Umhangs von ihrem Gesicht zurück. Ihre Augen waren noch immer geöffnet, doch es sah aus, als ob sie nichts wahrnähmen, und sie bewegte sich nicht. Bevor ich den Puls an ihrer Halsschlagader fühlen konnte, gab sie jedoch ein Zischen von sich, und dann sprach sie meinen Namen aus.
»Merlin«, krächzte sie heiser. »Es tut... mir leid ...«
»Du hast mir geholfen, und ich konnte dir nicht helfen«, entgegnete ich. »Mir tut es leid...«
»Tut mir leid ... daß ich nicht länger... durchgehalten habe«, fuhr sie fort. »Ich bin keine... gute Reiterin. Sie... verfolgen dich.«
»Wer?« fragte ich.
»Sie haben... die Hunde ... jedoch zurückgerufen. Aber das Feuer... stammt von jemand anderem. Weiß nicht... von wem.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Ich spritzte ihr etwas Wasser auf die Wangen, um sie zu kühlen. Unter dem Ruß und dem angesengten, zerzausten Haar war es schwierig, ihr Aussehen zu beurteilen.
»Jemand ist... hinter dir her«, sagte sie, und ihre Stimme wurde immer schwächer. »Vor dir... ist auch jemand. Darüber weiß... ich nichts. Tut mir leid.«
»Wer?« fragte ich erneut. »Und wer bist du? Wieso kennst du mich? Warum...«
Sie lächelte schwach. »... mit dir schlafen. Kann jetzt nicht. Muß gehen...«
Ihre Augen schlossen sich.
»Nein!« rief ich.
Ihre Gesichtszüge verzerrten sich, und sie sog einen letzten Atemzug ein. Dann ließ sie ihn wieder aus und benutzte ihn, um die geflüsterten Worte vorzubringen: »Laß mich... einfach hier... versinken. Leb wohl.«
Eine Rauchwolke wehte über ihr Gesicht. Ich hielt die Luft an und schloß die Augen, als ein größerer Schwaden folgte und uns einhüllte.
Als die Luft schließlich wieder einigermaßen klar war, untersuchte ich sie. Ihre Atmung hatte aufgehört, und es war kein Puls, kein Herzschlag mehr vorhanden. Es gab keine nicht brennende, nichtschlammige Stelle in der Nähe, um einen Wiederbelebungsversuch zu unternehmen. Sie war tot. Sie hatte gewußt, daß sie sterben mußte.
Ich wickelte sie behutsam in meinen Umhang ein, benutzte ihn als Leichentuch. Zuletzt legte ich einen Zipfel über ihr Gesicht. Ich befestigte das Ganze mit der Spange, mit der ich ihn am Hals zusammengehalten hatte, als ich ihn getragen hatte. Dann watete ich hinaus in tieferes Wasser. »Laß mich einfach hier versinken.« Manchmal sinken Tote schnell, manchmal schwimmen sie ...
»Leb wohl, fremde Lady«, sagte ich. »Ich wünschte, ich hätte deinen Namen erfahren. Nochmals danke.«
Ich ließ sie los. Ein Wasserwirbel ergriff sie. Sie war verschwunden. Nach einer Weile wandte ich den Blick von der Stelle ab und entfernte mich davon. Zu viele Fragen und keine Antworten.
Irgendwo wieherte ein aufgebrachtes Pferd.
_9 —
Mehrere Stunden und viele Schatten später legte ich erneut eine Rast ein, an einem Ort mit einem klaren Himmel und wenig Zunder in der Nähe. Ich badete in einem flachen Wasserlauf und rief anschließend frische Kleidung aus dem Schatten herbei. Nachdem ich sauber und trocken war, ruhte ich mich am Ufer aus und bereitete mir eine Mahlzeit.
Es schien, als ob jetzt jeder Tag ein 30. April wäre. Es schien, als ob jeder, dem ich begegnete, mich kannte und als ob jeder ein ausgeklügeltes Doppelspiel spielte. Leute starben rings um mich herum, und Katastrophen wurden zu etwas ganz Alltäglichem. Allmählich kam ich mir wie eine Gestalt in einem Videospiel vor. Was würde als nächstes kommen? fragte ich mich. Ein Meteorhagel?
Es mußte einen Schlüssel geben. Die namenlose Lady, die ihr Leben für mich gelassen hatte, hatte gesagt, daß ich von etwas verfolgt würde und daß auch
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