Ambient 02 - Heidern
über die Richtung, die mein Roman nehmen sollte, treffen zu wollen, stellte ich mir vor: »Okay, da sind also die späten 50er. Was hielte jemand aus den späten 50ern von unserem heutigen New York, wenn sie aus irgendeinem Grund ins Jahr 1983 versetzt würden?« Mir wurde klar, wie rundherum unvorhersagbar 1983 vom Zeitpunkt 1958 aus gewesen ist: Man hätte zwar die Verhältnisse des Jahres 1958 extrapolieren können, aber was hilft das gegen die Kanonen der Weltgeschichte, die sich im Sturm der Zeit losreißen und völlig meschuggen über Deck purzeln? »Also«, dachte ich weiter, »werde ich die Handlung mal 25 Jahre in die Zukunft verlegen. Dazu nehme ich alles, was zur Zeit in New York passiert und verstärke es um das Zehnfache.« Was nicht unbedingt heißen sollte: schlechter, bösartiger machen. Sondern nur: mehr, mehr davon. Von diesem Grundsatz aus trieb ich meine Arbeit voran.
Die erste Szene von ›Ambient‹ spielt in einer Buchhandlung – in jener Buchhandlung, in der ich viereinhalb Jahre lang gejobbt und wo ich eben gekündigt hatte, angeödet von diesem Metier. Als das Buch erschien, vertrauten mir mehrere Vertriebsleute aus meinem Verlag an, daß sie mit diebischer Freude gelesen hätten, wie dieser spezielle Buchladen im zweiten Kapitel in die Luft fliegt. Mir half es auf jeden Fall, wie soll ich sagen, gewisse soziopathische Tendenzen zu unterdrücken.
Also, sechs Kapitel ungefähr fertig: Da wurde mir klar, daß ich hier ein Buch mit großem B in der Mache hatte. Die erste Hälfte ging mir, wie gesagt, flott von der Hand. Allerdings mußte ich wieder arbeiten, um Geld zu verdienen, und ich kriegte einen Job bei einem Buchgroßhändler in Brooklyn, mitten in Bedford-Stuyvesant. Jeden Morgen fuhr ich mit der U-Bahn zur Arbeit, mit der übelsten U-Bahn New Yorks, die irgend etwas zwischen einer und zwei Stunden für die einfache Fahrstrecke brauchte, je nachdem, ob der Zug in Flammen aufging oder nicht. Diese U-Bahn-Reise führte mich täglich, wie soll man es ausdrücken, in eine eher sieche Gegend der Stadt, in das Herz einer Albtraumlandschaft, wo allein der kurze Weg vom Bahnhof zur Arbeitsstelle eine Art Abenteuer-Urlaub war. Während ich an ›Ambient‹ arbeitete, watete ich buchstäblich jeden Tag durch zerbrochenes Glas. Da war ständig dieses Geräusch, wenn man kleine Scherben unter den Sohlen zermalmt. Blickte ich auf, sah ich Bäume aus den rostigen Eingeweiden verfallender Wohnblocks wachsen, sah ich abgefackelte Ruinen und dachte mir bloß: »Ich erfinde doch nichts. Es sieht bereits so aus!« Das alles verhinderte, daß ich ›Ambient‹ während des Schreibprozesses für Science Fiction hielt. Ich übertrug ja nur das Ausmaß des Verfalls eines Viertels in Brooklyn auf Manhattan.
Meine Erstfassung schreibe ich sehr schnell herunter, damit die Handlung schon mal feststeht. Dann überarbeite ich und überarbeite ich und überarbeite ich bis in alle Ewigkeit und die Worte ihren richtigen Platz und Klang haben. Die ganze Zeit über lese ich mir das Geschriebene laut vor, um sichergehen zu können, daß alles richtig klingt und nichts das Ohr beleidigt. Bei meiner zehnten oder elften Fassung von ›Ambient‹ ging mir plötzlich auf, daß sich auch die Sprache im Lauf der Zeit verändern würde. Also habe ich das dann auch noch beschleunigt und umgesetzt. Die Art linguistische Veränderung, die in meinen Büchern abläuft, wird sich in der Realität nicht so rasch vollziehen, nein, wohl nicht. Aber es scheint mir die einzige meiner ›Vorhersagen‹ zu sein, die so in etwa eintreffen könnte, denn im Lauf der Zeit werden wir erleben, daß sich mit immer größerer Geschwindigkeit Substantive in Verben verwandeln, Worte eingedampft werden, neu kombiniert etc. All dies passiert jetzt schon. In meinen Büchern läuft es nur schneller ab.
Also paßte ich meine fertigen Kapitel der neuen Sprechweise an, was zu immer neuen Varianten und Veränderungen führte. Als ich mich an den zweiten Teil von ›Ambient‹ machte, war das zu bewältigende Material bereits so angeschwollen, daß ich mir einfach eingestehen mußte, ich würde ein Buch in sechs Teilen zu schreiben haben, wenn ich mir nichts vormachen wollte. So stand also fest, wie die kommenden Jahre aussehen würden.
Also, noch mal: erste Kapitel fertig, zurück auf Null, neu schreiben in Zukunftssprache, die mir nicht nur mehr Freiheit gewährte, wie ich meine Anliegen rüberbringen konnte, sondern es mir auch gestattete, mehr
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