Ambient 02 - Heidern
ich fürchte, daß du dich täuschst«, beharrte Mama auf ihrem Standpunkt, also gab ich es auf. Boob saß nur da und starrte voller Angst auf den Fernseher. Ich legte den Arm um sie. Sie zitterte wieder. Eigentlich zittert sie zur Zeit immer.
In den Inlandsnachrichten redeten sie über die »Notfallsituation«. Sie kündigten an, daß die Nationalgarde dem Bund unterstellt werde. Sie stellten fest, die Lage sei so verfahren, daß die Regierung endlich Schritte unternehme, damit es nirgends mehr Ausmaße wie auf Long Island annehmen kann. Sie versprachen, daß der Präsident im Fernsehen sprechen würde, was er eine Stunde später auch tat. Zwischendurch sahen wir uns Tierfilme an. Danach eben den Präsidenten. Keine Ahnung, mit was sie ihn heute abend vollgepumpt hatten, Anne, aber es müssen Hämmer gewesen sein. Er hatte glasige Augen wie Mama und sah aus, als wolle er ganz woanders sein. Er saß in einem Lehnstuhl neben einem Kamin, wie wir einen in der alten Wohnung hatten. Er sagte, die Operation Domestic Storm werde alles in Windeseile befrieden, also müsse man sich um die wirtschaftlichen Folgen keine Gedanken machen. Er versprach, die Nation gehe einer baldigen Besserung entgegen, wie er das schon immer versprochen habe. Dann verkündete er noch, daß auf Anraten von Beratern den wilden Tieren in der Großstadt kein Pardon gewährt werden würde. »Meint der uns, Mama?« »Nein, Liebes, sicher meint er alle anderen!« Wir sahen noch eine Weile zu, aber er sagte nichts mehr, nur noch daß Amerika großartig und mächtig sei. »Wie stellen die den Unterschied zwischen uns und allen anderen fest?« fragte ich weiter. Mama gab keine Antwort, als sei diese so offensichtlich, daß man gar nicht fragen müßte. Boob saß zwischen uns und schaukelte vor, zurück, vor, zurück und klammerte sich an ihre Puppe. Dann kam Pappi heim, als wäre ein ganz gewöhnlicher Tag. Im Laden sei nichts besonderes los gewesen. Sonst sagte er nichts. Der Laden raubt ihm die Lust am Reden. Schluß für heute.
19. April
Ein Freudentag, Anne! Laß dir erzählen: Mittags rief Jude an! Sie riet mir, alte Klamotten anzuziehen, wenn ich rausgehe und sie bei McDonalds auf dem Parkplatz treffe. Also zog ich eins von Pappis alten Hemden an und Jeans mit Löchern in den Knien. Mama sah in der Küche fern, die Nachrichten. Ich fragte, ob es neue Entwicklungen gebe, aber nein.
Jude wartete schon an einen Lastwagen gelehnt, als ich kam. Sie trug wahnsinnig teure Laufschuhe und hatte sich das Haar glatt nach hinten gebunden. Die hat vielleicht Backenknochen! »Gehn wir zu mir!« schlug sie vor und wandte sich den Broadway hinauf.
»Was war gestern nacht los?«
»Was meinst damit?«
»Die Soldaten. Was haben die getan?«
»Angegeben. Plattfußposten an jeder Ecke. Habn ihre Schießprügl wien Schwanz gehalten, Wichser die.«
»Wurde jemand erschossen?«
»Keiner, um dens schad war.«
»Wo sind die jetzt?« fragte ich, weil ich niemanden sah.
»Weiter oben. Hier is keiner. Auch nich in der Grube.«
»Iz hat mir von der Grube erzählt.«
»Wolln kein Ärger mitn Grubenhunden, wie die Bullensäcke. Die beißn und zerreißn. Wenn die die Grube ausräuchern wolltn, brauchn sie Napalm.«
»Was machen die Menschen?«
»Klappe haltn. Auf Zehenspitzen gehn, bis man sich auskennt mit der neuen Ordnung.«
»Haben die Unruhen aufgehört?« Jude zeigte mir die schwarze Wolke am Horizont. »Bis die nich aufhörn, hörn wir nich auf. Kommt auch hier runter. Check das da.«
Zwei Querstraßen weiter an der 140. haben die Soldaten Straßensperren errichtet. Ihre Laster standen quer auf der Fahrbahn und ließen jeweils nur eine Spur frei, damit Busse und Autos durchkommen. Ungefähr 20 Soldaten standen da mit ihren Gewehren und filzten jedes Fahrzeug, das rein oder raus wollte. Die Läden und Restaurants, die noch nicht pleite waren, hatten geschlossen und die Rolläden herunten. Überall auf der Straße lag zerbrochenes Glas herum, und ein ausgebranntes Autowrack lag auf dem Mittelstreifen des Broadway. Bei einigen Läden waren die Gitter aufgebrochen und die Fenster eingetreten. Ein Schnapsladen an der Ecke war völlig zu Klump geschlagen und brannte aus.
An der 138. gingen wir nach Osten. Eigentlich sieht es hier aus wie in der Upper West Side, bloß daß die meisten Gebäude verlassen wirken. Eine Ampel lag auf der Straße. Eine halbe Querstraße weiter war ein unbebautes Grundstück, auf dem alte Ziegel und Abfall lagen, wo früher wohl
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