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Ambient 05 - Elvissey

Ambient 05 - Elvissey

Titel: Ambient 05 - Elvissey Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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elektrisch. »Ich spiele euch was, was ich gut kann. Ich kenne ein Lied über London. Ich gebe euch eine Ahnung, was ich kann.«
    »Wir wissen, was du kannst, Elvis, wir haben dich gehört und gesehen …«
    »Du meinst, ihr habt ihn gehört und gesehen«, sagte E. »Bleibt einfach ruhig da sitzen und hört zu. Wenn ich singen soll, muß ich auch etwas zu sagen haben. Richtig, Isabel?«
    Ich nickte; Leverett starrte mich an, und ich schauderte, als sein Lächeln wiederkehrte. Als E seine Akkorde zu spielen begann, erkannte ich, daß er genauso gut spielte wie er sang. Vielleicht hatte er auch lange genug seinem Gegenstück zugehört, um nicht nur zu erkennen, was er konnte, sondern auch was er verbessern konnte. Als E sang, klang er wie Elvis auf seinen frühesten Schallplatten, als wäre er aus einer anderen Welt, die weder unsere noch seine war, in das Studio versetzt worden.
     
    »They call me rude, the rambling boy,
    To London city I made my way,
    And lost my money at ball and play.«
     
    »Nicht alle aufgelisteten Songs wurden auch von deinem Gegenstück gespielt«, unterbrach Leverett, »sondern nur die imagegemäßen. Hast du jemals von ›Teen Angel‹ gehört …?«
     
    »I found me there a darling wife,
    I loved here clearly as my life,
    She made me rob, and murder and steal. «
     
    E fixierte während des Spielens seinen Blick auf mich, spielte zu niemand anderem, ohne sich zu bekümmern, daß wir nicht allein waren. Gegen alle Erwartungen oder Gründe fühlte ich mich besänftigt. Es war möglich, daß ich mich im Lauf der Wochen an ihn gewöhnt hatte; daß die Kontrolle, die ich über ihn hatte, die Macht, die ich nie über meinen Mann gehabt hatte, mich genug stärkte, so daß ich das Verlangen meiner eigenen Seele spürte, die sich klar zeigte und nicht erst Momente später, wenn mein Geist genug Zeit hatte, ihre Bedeutung zu reinterpretieren. Als E mich jetzt anstarrte und seine Gitarrensaiten streichelte wie er seine Freundin gestreichelt haben mochte, verstand ich nicht nur seine gegenständliche Anziehung, sondern fühlte sie auch.
     
    »Now I am condemned to die,
    For me a many poor girl will cry,
    But all their tears won't set me free.«
     
    Unsere Reise hatte John und mich enger zueinander gebracht. Wir waren so unaufhaltsam aufeinander zugezogen worden, wie eine Rakete irgendwann zur Erde zurückkehren mußte; aber in unserem Himmel sah ich kein Zeichen, daß wir jemals solch eine gegenseitige Zerstörung durch Anziehung vermeiden konnten. Während ich E singen hörte, entkörperte ich momentlang und erlaubte meiner Seele, für eine Zeit fortzutreiben, in der sie sich mit jemandem vermischte, der mir unbekannt war. Es war nicht wirklich E, mit dem ich mir die Vereinigung vorstellte, zumindest analysierte ich es so; mein Traumliebhaber zeigte sich nur in Hülle, die einen Kern umgab, die teils zu meinem Mann, teils zu mir gehörte.
     
    »All young men, be warned by this,
    Never take up with a feisty twist,
    She'll see you hang on the gallows tree.«
     
    E lächelte, als er sein Lied beendete und seine Gitarre beiseite legte. Leverett rieb seine Hände gegeneinander, als wären sie glatter geworden. »Es ist gewiß ein stimmungsvolles Lied«, sagte er. »Wir werden uns an meine Vorschläge halten, denke ich. Dein Publikum weiß, was es will. Vertraue mir.«
     
    »Nicht alle meine Stücke wurden ausgestellt«, sagte Tanya, während sie mich in ihr größtes Zimmer führte. »Ich nenne dieses hier 'Klagemauer: Du hast mich schon einmal gesehen'.«
    Nachdem ich E verlassen hatte, war ich selbst zu Tanyas Atelier in Riverdale gefahren, nachdem ich mich mit ihr verabredet hatte, ihre Werke aus der Nähe zu betrachten. Judy hatte ihr ein Haus zur Verfügung gestellt, von dem man einen Blick über den Hudson River und die Palisades hatte, eine Villa, die einst wie alle in der Nachbarschaft von einem Offizier der Home Army bewohnt worden war; zwanzig Jahre grüner Farbe blätterten vom Äußeren ab, rieselten auf das Gras und sahen wie gesunde Unkräuter im sonnenverbrannten Hof aus. Drinnen gingen wir zwischen Doppelreihen von Metallkisten umher, die zweimal so hoch wie unsere Köpfe gestapelt waren. Jede Kiste trug auf ihrer rostigen Fläche ein Foto, das zunächst wie ein schlafendes Baby aussah; in manchen Fällen schien es sogar nach näherer Begutachtung unvorstellbar, daß das gezeigte Baby wirklich tot war.
    »Jede Kiste enthält einen Verlorenen. Eine Reinterpretation von Boltanski.

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