Ambler by Ambler
bedeutete sie mir, während sie sich schon zum Gehen wandte, daß sie bald wieder da sei. Es war völlig ausgeschlossen, daß unbemerkt Blutungen auftreten würden, solange sie Dienst hatte. Ich war in guten Händen.
Also mußte ich nachdenken.
Wenn ich, so erkannte ich bald, imstande sein wollte, dem Arzt am nächsten Morgen auch nur halbwegs überzeugend klarzumachen, daß es mir besser ging, dann müßte ich aufhören, den Unfall Revue passieren zu lassen. Und wichtiger noch: ich müßte, da ich mich an das Geschehen nicht mehr genau erinnern konnte, aufhören, das mir Bekannte zu revidieren, als handelte es sich um eine Geschichte, die anders verlaufen und ausgehen würde, wenn ich beschloß, sie anders zu schreiben. Diesmal durfte es keine Neufassung geben. Ich würde an andere Dinge denken müssen, an angenehme und amüsante Dinge.
Das stellte sich als unmöglich heraus. Ich versuchte, meine Glückstreffer zu zählen und merkte bald, daß ich statt dessen meine blauen Flecken zählte. Nicht die offensichtlichen an Beinen und Händen, sondern die Stellen an Armen, Brust und Schultern, die sich erst jetzt bemerkbar machten. Der Haken war, daß die einzigen anderen Dinge, an die ich im Moment denken konnte, überhaupt nicht lustig, sondern entschieden unangenehm waren. Einige waren tatsächlich schlimmer als die Unfallszenen, die sich in meiner Phantasie immer wieder abspielten.
Mein gesprochenes Französisch war immer nur ausreichend gewesen. Auf französisch konnte ich bei einem Klempner wegen eines undichten Rohrs anrufen, ich konnte mich mit den Leuten, die meine Schreibmaschine warten sollten, herumstreiten oder mit dem Gemüsehändler höfliche Konversation machen. Eigentlich spielte es keine große Rolle, wenn ich mich, wegen eines Schlags auf den Kopf, in Zukunft bei all diesen Sachen weniger flüssig würde ausdrücken können, oder? Nein, nicht sehr. Bestimmt nicht? Na ja, vielleicht doch, aber mal angenommen, es geht bei dieser Geschichte noch um ganz andere Dinge. Wie konnte ich sicher sein, daß ich nur in dieser Beziehung beeinträchtigt sein würde? Einer der Ärzte hatte gesagt, daß ich damit rechnen müßte, von dem, was unmittelbar vor dem Unfall passiert war, nur wenig in Erinnerung rufen zu können. Das war bedauerlich, und das würde auch die Versicherungsgesellschaft bedauerlich finden. Aber dieser weiße Fleck bezog sich auf das Geschehen unmittelbar vor dem Unfall. Warum konnte ich mich bloß nicht mehr an das erinnern, woran ich gedacht hatte, bevor ich auf die Autobahn eingebogen war? Mir war so, als hätte es irgendetwas mit den Vereinigten Staaten zu tun gehabt. Doch was? Eine andere Sache: in der ›Taverne du Château‹ in Vevey, wo ich zu Mittag gegessen hatte, hatte ich ein Buch gelesen. Aber welches? Warum konnte ich mich nicht mehr daran erinnern?
In meiner Kindheit war ein Mann, von dem es hieß, er lebe »von seinem Grips«, entweder ein Schmarotzer oder ein Betrüger. Wandte man diesen Ausdruck auf Frauen an, dann wurden sie entweder »ausgehalten« oder sie betrieben professionellen Ladendiebstahl. Daß oberschichtspezifische Einstellungen gegenüber Proleten und Emporkömmlingen beiderlei Geschlechts von Kleinbürgern in eigenen Versionen übernommen wurden, war üblich, doch diese verwirrte mich schon damals. Aus meiner Sicht lebte man, indem man mit den Händen arbeitete, oder man lebte, indem man seinen Grips anstrengte, oder man lebte von einer Kombination aus Grips und manueller Arbeit, um etwas Verkäufliches herzustellen, eine Kommode etwa oder eine Aufführung von Chaminades Der Herbst . Ich habe professionelle Schriftsteller immer für Leute gehalten, die in diesem Sinne von ihrem Grips lebten, und den Grips, von dem sie lebten, immer für eine kostbare natürliche Ressource gehalten, die versiegen würde, noch ehe ihr Besitzer starb. Wenn Schriftstellern das Denkvermögen vorzeitig abhanden kam, dann wurde das immer auf einen »Nervenzusammenbruch« zurückgeführt.
Dieses Bild der Lage eines Schriftstellers war wohl nicht völlig abwegig, wenngleich es den Erwachsenen abgelauscht war, die sich über die Autoren von Songs, Gedichten, Witzen, Revueszenen und Schlagern unterhielten. »Nervenzusammenbruch« war ja der viktorianische Euphemismus für jedwede Krankheit, bei der geistige Umnachtung oder Gehirnschäden, einschließlich Alkoholismus, im Spiele waren. Obwohl ich wußte, daß Schriftsteller nicht die einzigen Arbeiter waren, die all ihren Grips
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