Ambler-Warnung
Nationalcharakter.« Ashton Palmer blickte ins Publikum, seine schiefergrauen Augen funkelten. »Das Reich der Mitte war ein Jahrtausend lang – durch unzählige Dynastien hindurch – streng nach innen ausgerichtet. Eine alles durchdringende Xenophobie war wahrscheinlich das einzige verbindende Element in dem Schmelztiegel unterschiedlichster Bräuche und Sitten, die wir als chinesische Kultur bezeichnen. In der chinesischen Geschichte gab es keinen Peter den Großen, keine Zarin Katharina, keinen Napoleon, keine Queen Victoria, keinen Kaiser Wilhelm, keinen Tojo. Seit der Befreiung vom Tatarenjoch hat es nie wieder ein chinesisches Imperium gegeben. Es gab immer nur China. Ein zweifelsohne riesiges, mächtiges Land. Aber letztendlich ein von vier Seiten umschlossener Innenhof, ein einziger gewaltiger siheyuan. Man kann darüber streiten, ob diese tief verwurzelte Fremdenfeindlichkeit dem chinesischen Volk genutzt hat oder nicht. Unbestreitbar ist jedoch, dass sie dem Rest der Welt genutzt hat.«
Ambler rückte näher an den hochauflösenden 100-cm-Bildschirm heran. Der Wissenschaftler, der bestechende Intelligenz ausstrahlte, zog auch ihn in seinen Bann.
»Manche Politikwissenschaftler glaubten, dass sich China nach der kommunistischen Machtergreifung verändern würde«, fuhr Palmer fort, nachdem er aus einem Glas auf dem Pult einen Schluck Wasser getrunken hatte. »Da der Kommunismus schließlich in der reinen Lehre internationale Ziele verfolgte, würde sich China durch diese expansionistischen
Tendenzen wenigstens seinen Ostblock-Bruderstaaten gegenüber öffnen. Das waren die Prognosen der meisten Politikwissenschaftler. Aber natürlich erwiesen sie sich als falsch. Mao etablierte sich in der chinesischen Geschichte als der Herrscher, der die strikteste Kontrolle über sein Volk ausübte, er machte sich quasi zum Gottkaiser. Und trotz seiner kriegerischen Rhetorik schirmte er sein Volk nicht nur vom starken Wind der Moderne ab, sondern war auch militärisch gesehen extrem konservativ, ja sogar reaktionär. Mal abgesehen von einigen vernachlässigbaren Scharmützeln, gab es während seiner Regierungszeit nur zwei militärische Zwischenfälle. Einer war der Konflikt auf der koreanischen Halbinsel in den fünfziger Jahren, bei dem – wohlgemerkt – China davon ausging, dass die USA eine Invasion geplant hatte. Die Pattsituation in Korea entstand aus einer defensiven Haltung heraus und war nicht als Aggression konzipiert. Tatsächlich war Mao der wahre letzte Kaiser von China. Seine Obsessionen richteten sich nach innen, wichtig war ihm hauptsächlich die Reinheit seiner Nachfolger.«
Mit neutralem Gesichtsausdruck fuhr Palmer fort, seine Vision zu erläutern, aber seine Worte wirkten beinahe hypnotisch. »Seit ein paar Jahren sehen wir nun gewaltige Umwälzungen innerhalb Chinas – eine wirkliche Neuorientierung nach außen, die durch den unglaublich schnellen Einstieg in den globalen Kapitalismus angetrieben wird. Nach einer solchen Entwicklung haben sich alle amerikanischen Regierungen gesehnt und sie haben alles getan, um sie voranzutreiben. Aber, wie die Chinesen sagen, man muss mit seinen Wünschen vorsichtig sein. Wir haben den Drachen geweckt und hoffen nun, dass wir ihn auch reiten können.« Er legte eine Pause ein und lächelte mit schmalen Lippen. »Und weil wir nur davon träumen, diesen Drachen zu reiten, haben wir vergessen,
was passiert, wenn man von seinem Rücken fällt. Die Geostrategen haben sich eingeredet, dass wirtschaftliche Konvergenz zu politischer Konvergenz führen wird, zu harmonischer Interessengleichheit. Aber das Gegenteil ist der Fall. Zwei Männer, die in die gleiche Frau verliebt sind, gaben noch nie ein Beispiel für friedliche Koexistenz.« Aus dem Publikum war vereinzeltes Lachen zu hören. »Genau das Gleiche gilt für zwei Staaten, die um dasselbe Ziel kämpfen. Sei es nun die wirtschaftliche Vormachtstellung in einer bestimmten Region oder die politische Hegemonie im Pazifik. Unseren kurzsichtigen politischen Vordenkern ist offenbar entgangen, dass Chinas Marktorientierung mit einer Steigerung seiner kriegerischen Tendenzen Hand in Hand gegangen ist. Zehn Jahre nach Maos Tod versenkte das chinesische Militär drei vietnamesische Schiffe im Gebiet der Spratley-Inseln. 1994 gerieten im Gelben Meer amerikanische Schiffe und chinesische U-Boote aneinander, in den darauffolgenden Jahren wurden die philippinische Insel Mischief Reef besetzt, vor der Küste Taiwans
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