Ambler-Warnung
Minuten hing so vieles ab. Mach einfach dasselbe wie immer, hatte sie gesagt. Und wenn das nicht ging? Wenn er es nicht schaffte?
Liu Ang war das geliebte Staatsoberhaupt der bevölkerungsreichsten Nation der Erde. Er verkörperte nicht nur die Hoffnungen seines Volkes, sondern die Hoffnungen der ganzen Welt. Durch einen einzigen Schuss würden diese Hoffnungen zunichtegemacht werden. China würde aus der Bahn geworfen werden. Es würde die sorgfältig gestellten Weichen für eine friedliche Entwicklung verpassen und auf einen direkten
Kollisionskurs geraten. Und das Ergebnis konnte nur die globale Katastrophe sein. Eine entsetzte, vor Wut kochende Milliardenbevölkerung würde auf die Barrikaden gehen und Rache fordern. Und der blinde Zorn einer so riesigen Menschenmasse war die größte Gefahr, die dem Planeten je gedroht hatte.
In dem künstlich angelegten Innenhof neben ihnen spülten die Großen und Weisen – und die weniger Weisen – dieser Welt ihre Häppchen mit Champagner hinunter, sahen auf ihre teuren Uhren und machten sich, eingehüllt in den Duft der Macht, auf den Weg zum Kongresssaal. Sie waren natürlich auch aufgeregt, aber viel zu blasiert, um das zu zeigen. Liu Ang war momentan der wichtigste Politiker des Planeten und möglicherweise auch der effektivste. Visionäre gab es immer wieder, aber Liu Ang hatte gezeigt, dass er seine Visionen zu verwirklichen wusste. Diese Gedanken wirbelten wie ein Sandsturm durch Amblers Kopf. Doch er musste sie verbannen - er durfte überhaupt nicht nachdenken –, wenn er klar sehen wollte.
Es stand ungeheuer viel auf dem Spiel. Vielleicht das Schicksal der ganzen Welt.
Der Saal war größer, als er auf den ersten Blick gewirkt hatte. Allein das Aufstellen der Sitzreihen – einzelne Chromstühlen, die sich zwar berührten, aber nicht miteinander verbunden waren – musste Stunden gedauert haben. Auf jedem Stuhl lag ein in Folie eingeschweißter Funkkopfhörer mit Mikrofon, über den Simultandolmetscher auf zehn verschiedenen Kanälen Reden und Redebeiträge in zehn Sprachen übersetzten.
Während die Zuhörer in die Halle strömten, entschloss sich Ambler, erst einmal ohne Kamera eine Runde zu drehen.
Dabei musste er sich zwar auf seine bloßen Augen verlassen, war aber viel beweglicher. Er blickte zum Podium hinüber. Zwei riesige blaue Tafeln mit dem vertrauten Logo des Weltwirtschaftsforums umrahmten die Bühne. Im Hintergrund hing ein Vorhang mit Schachbrettmuster, auf den blauen Quadraten war ebenfalls das WEF-Logo abgedruckt, was einen fast dreidimensionalen Effekt ergab. Hinter dem Podium hing eine große Leinwand von der Decke, auf die ein Video der WEF-Kameras projiziert wurde. So konnten auch die Zuhörer in den hinteren Rängen die Person am Rednerpult sehen.
Ambler blickte erneut auf die Uhr und sah sich dann um. Der Saal war inzwischen gut gefüllt – erstaunlich, wie schnell das passiert war –, und der chinesische Präsident würde in wenigen Minuten die Bühne betreten.
Ambler wanderte an der ersten Reihe entlang, als suche er einen freien Sitzplatz. Sein Blick glitt von Gesicht zu Gesicht, und er entdeckte den banalen Dünkel von Menschen, die sich für sehr wichtig hielten. Ein pummeliger Mann mit einem schmalen Stenoblock verströmte die typische Furcht des Journalisten vor der nahenden Deadline; ein schlanker Mann mit einem grell karierten Anzug strahlte die aufgedrehte Vorfreude eines Selfmademan aus, der bald eine wichtige Persönlichkeit leibhaftig vor sich sehen würde. Eine andere Zuhörerin – eine blonde, perfekt frisierte Frau, an die sich Ambler aus Zeitungsartikeln erinnerte, war sie nicht die Geschäftsführerin eines Computerkonzerns? – wirkte abwesend, als bereite sie sich auf ihr nächstes Interview vor. Ein weißhaariger Mann mit Gleitsichtbrille und Augenbrauen, für die er eine Bürste gebraucht hätte, studierte die Bedienungsanleitung des Kopfhörers mit entmutigter Miene, als habe er gerade von einer Baisse an der Börse erfahren. Ambler lief langsam
den rechten Gang entlang und betrachtete konzentriert einen Fotografen, der eine übergroße Spiegelreflexkamera mit riesigem Teleobjektiv trug. Der Mann wirkte gutmütig und naiv. Vielleicht freute er sich darüber, einen guten Platz am Saalrand ergattert zu haben, und bereitete sich darauf vor, ihn gegen seine Konkurrenten zu verteidigen. Zu seinen Füßen stand ein Kamerakoffer aus Alu, auf den er unzählige Aufkleber von seinen Reisen in alle Welt
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