Ambra
Kunststückchen verlernt hatte.
Bereits eine halbe Stunde vor der Trauung standen die geladenen Gäste vor dem Backsteinportal der Kirche und beobachteten abwechselnd die Wolken, die über den Himmel zogen, und Lilli, Konrads Braut, die auf dem Bordstein vor ihnen hin und her ging und immer wieder den Sitz ihres Schleiers überprüfte. Ihre Eltern, ein in die Jahre gekommenes Schneiderehepaar, begannen leise miteinander zu flüstern und fragende Blicke zu Konrads Mutter zu schicken. Magda Myszas grau-violettes Kleid schnürte sie in der Taille ein, zwickte unter den Achseln und erinnerte sie daran, wie lange es her war, dass sie eine junge Frau gewesen und mit ihrem Mann in die Stadt gekommen war. Sie hatte es sich in den erstenJahren in der Stadt gekauft und sich für ein besonderes Ereignis aufbewahrt. Aber was nutzte das schönste Kleid, wenn Kazimierz nicht dabei sein konnte, um sie darin zu bewundern? Kasimir, wie ihn die Leute nannten, war mit seinen achtundfünfzig Jahren ein von Krankheit und Krieg gezeichneter Mann, der kaum noch das Krankenlager verließ. Und das war noch nicht alles: Wie sollte sich eine Mutter auf das Fest einlassen, wenn der Streit ihrer Söhne ihr das Herz zerriss? Es war so weit gekommen, dass Konrad es für besser befunden hatte, seinen Bruder Marian nicht zur Trauung einzuladen; ein Unding, wie Magda fand.
Als schließlich auch der evangelische Pfarrer der Kirche, Martin Cornelius, eingetroffen war und sich nach Konrad erkundigte, schreckte Magda aus ihren Gedanken hoch. Es war Punkt zwölf Uhr, die Glocken begannen zu läuten, und Lilli, die sich bei ihrer Mutter eingehakt hatte, war den Tränen nah.
Ohne den Bräutigam können wir nicht einziehen, sagte Cornelius. Schon wollte sich Heinz Segenreich auf den Weg machen, um ihn abzuholen, da sah er jemanden, der in hochgeschlossenem Anzug die Straße hinunterrannte und schließlich keuchend vor der Gruppe stehenblieb.
Es tut mir leid, sagte Konrad. Ich hatte etwas Wichtiges vergessen.
Er nahm Lilli bei der Hand, begrüßte seine Schwiegereltern und nickte den Gästen zu. Seine Mutter klaubte noch rasch eine Staubfluse von seinem Anzug, dann folgten sie dem Pfarrer.
Bevor Konrads Freunde die Kirche betraten, lachten sie miteinander: Wie dumm es doch gewesen sei, die Ringe zu verlegen! Als Bräutigam! Natürlich konnten sienicht ahnen, dass es nicht die Ringe gewesen waren, die Konrad verlegt hatte, sondern die Silberkette mit dem Anhänger. Gerade, als die Glocken angefangen hatten zu läuten, hatte er ihn in der untersten Schublade der Kommode gefunden und ihn sich umgelegt. Der Anhänger war unter seinem Hemd und der Krawatte verschwunden, niemand würde ihn bemerken. Unter dem lauten Schimpfen und Rufen seines Vaters war Konrad schließlich aus dem Haus und die Straße hinunter gestürzt.
Geh mit Gott, hatte Kazimierz ihm hinterhergerufen, geh mit Gott, aber geh!
Die Gäste füllten kaum die Hälfte der Bänke. Obwohl nur wenig Licht durch die Fenster nach innen drang, hatte sich der Küster dagegen entschieden, die Kronleuchter zu entzünden.
Während des Einzugs hielt Lilli den Blick starr auf das dunkle Chorgestühl gerichtet. Als Zeichen seiner Entschuldigung drückte Konrad kurz ihren Unterarm, was Lilli aber ignorierte. Konrad überlegte, ob er ihr etwas zuflüstern sollte, beugte seinen Kopf zu ihr hinüber, aber gerade, als er seinen Mund öffnen wollte, schien er unaufmerksam zu werden. Wie sonst wäre es zu erklären gewesen, dass er beinahe an den Stühlen, die für sie bestimmt und vor dem Altar platziert worden waren, vorbeigegangen wäre? Lilli musste ihn zurückhalten, und trotz der Dunkelheit konnte Pfarrer Cornelius genau die Falten auf ihrer gerunzelten Stirn erkennen.
Konrad, flüsterte Lilli, und da erst schien er aufzumerken und setzte sich neben seine Braut. Wie merkwürdig er ihr vorkam: Sonst ein Mann, den nichts erschrecken und wenig erschüttern konnte, folgte Konrad kaum derPredigt, verpasste immer wieder, aufzustehen oder dem Pfarrer zusammen mit der Gemeinde zu antworten. Als Lilli schließlich bemerkte, dass Konrad stark schwitzte und sich immer wieder umdrehte, da wartete sie bis zum nächsten Lied: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren!
Statt zu singen, beugte sie sich ein wenig zu Konrad und fragte ihn, was bloß in ihn gefahren sei. Konrad strich sich mit der Hand über die Stirn und antwortete, dass er von Anfang an gemerkt habe, dass etwas nicht stimme, etwas habe nicht
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