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Ambra

Ambra

Titel: Ambra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabrina Janesch
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nur ein paar Seufzer, bevor es erneut ansetzte; zu viel, zu viel all das – die leisen Stimmen der Selbstmörder, des jungen Mannes, der in den Fluss gesprungen war, drei-, vier-, fünfmal, bis es endlich klappte und er nicht mehr automatisch zurück zum Ufer schwamm, seine Beschwörungen, dass es nun besser so sei und wie er an mir zerrte und mich nicht losließ, stundenlang wäre der bei mir geblieben, wenn ich ihn gelassen hätte; wenn ich ihn gelassen hätte, hätte er meinen Verstand aufgesogen wie das letzte bisschen Sirup vom Boden eines Glases.
    Der Chor der vier jungen Frauen, die bei Glatteis von der Straße Richtung Warschau abgekommen waren und gegen einen LKW aus Weißrussland schlitterten, wie die zeterten und einander nicht zu Wort kommen ließen, jede wollte die Erste sein, die sich ihrem Verlobten, Mutter, Vater, Bruder oder wem auch immer mitteilte, ein Lärm war das, zum Verrücktwerden, ein Geschnatter und Krakeelen, lauter war nur die alte Dame, die davon überzeugt war, von ihrem jüngsten Sohn vergiftet worden zu sein, ihre ganze Lebens- und Leidensgeschichte in fünf Minuten, so schnell konnte ich gar nicht sprechen, wie sie skandierte, ihr litauischer Akzent wälzte sich durch meine Mundhöhle hindurch und spülte alles andere hinfort, und als sie endlich schwieg, war ich mir sicher, meine eigene Stimme über all dem verloren zu haben. Aber sie war noch da und die eindringlichen Stimmen der Väter ebenfalls, auch die Stimmen der an Leukämie verstorbenen Kinderlein, und über allem der Stimmteppich der alleingelassenen Trinker und Säufer, die noch immer keinen geraden Satz hervorbringen
konnten, von denen noch immer niemand etwas wissen wollte, die aber an mir rüttelten und zupften und zerrten und Einlass begehrten, die altersschwachen Nonnen aus Sri Lanka, deren Kommentare noch aus dem Jenseits verfroren und unzufrieden klangen über das bitterkalte Land, in dem sie ihre letzten Jahre fristen mussten, der Schäferhundbesitzer, der sich glucksend und krächzend über sein Tier wunderte, das ihm spaßeshalber die Kehle durchtrennt hatte, das junge Mädchen, das auf dem Bahnsteig ins Straucheln gekommen war und sich auf den Gleisen wiederfand, eine halbe Sekunde, bevor der Schnellzug aus Warschau eintraf, und plötzlich das Flüstern meiner Großmutter, dass ich auf mich aufpassen solle, aufpassen, aufpassen, denn kaum hätte ich es mich versehen, würde auch ich enden im unersättlichen Schlund dieser Stadt.
     
    Eigentlich hätte Renia eine Kur gebrauchen können, so käsig, wie sie aussah. Ein Wochenendausflug war nichts als ein Tropfen auf den heißen Stein. Als ich sie darauf ansprach, winkte sie ab und sagte, das sei normal, wenn sie Stress habe. Ob ich mich daran erinnerte, wie es mir ging, als ich in der Stadt ankam? Da hätte ich auch nicht besonders gesund ausgesehen. Trotzdem hätte ich mich aufgerappelt.
    Eine Wolke zog vorüber, und als sie die Sonne wieder freigab, schloss auch ich meine Augen und hielt mein Gesicht in ihr Licht. Bald, bald würde wieder Frühling sein, Sommer. Es kitzelte in meinem Bauch, als ich daran dachte.
    Tag, die Damen. Wollt ihr euch doch lieber hier sonnen als am Strand?
    Bartosz hatte sich vor uns aufgebaut und die Arme indie Seiten gestemmt. Er sah übermüdet aus, die geröteten Augen mühsam aufgerissen. Kaum betrachtete er Renia, kam etwas Leben in ihn, er lächelte, nahm den Picknickkorb in die eine Hand und unsere Decken in die andere.
    Können wir los? Wir sind spät dran.
     
    Das Auto hatte sich aufgewärmt, und wenn man die Augen schloss, konnte man meinen, sich in einen Sommertag verirrt zu haben. Bartosz bestand darauf, die Fenster aufzumachen und die Freiheit zu spüren, wie er es nannte. Renias Dutt öffnete sich im Durchzug, und so flatterte ihr Haar bis nach hinten zu mir und Cudny, der immer wieder begeistert danach schnappte. Die beiden vor uns waren so sehr in ihr Schweigen vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie Cudny und ich uns ein Wurstbrot teilten. Es kam erst wieder ein Gespräch auf, als wir die See erreichten und auf einen schmalen Streifen Land fuhren, der ins Blau hineinragte. Wenn die Straße für einen kurzen Moment leer war, fuhr Bartosz Schlangenlinien und brachte Renia zum Lachen. Sie ließ ihren schlanken Arm aus dem Fenster gleiten, Cudny roch interessiert daran, aber ich hielt ihn zurück und musste dafür erdulden, dass er mir an den Haaren lutschte. Bartosz schaute in den Rückspiegel, und für einen Moment sah

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