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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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kriegt ihr es sauber getötet, und ihr macht kein Gemetzel mit dem Körper. Wir müssen den Vogel rupfen, wenn wir heimkommen, und ich will keine Kugel aus dem besten Stück Fleisch graben müssen.»
    Beim Herannahen der Menschen war der Vogelschwarm in Aufruhr geraten. Ainesley visierte einen Hahn in der Mitte an.
    Raphael verkrampfte am ganzen Körper, biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Die Augen hielt er halb geschlossen. Nie hatte er zugesehen, wie ein warmblütiges Tier, das größer war als eine Maus, getötet wurde, und schon gar nicht, wie es mit einem Gewehr abgeknallt wurde.
    Der Schuss machte popp, erstaunlich viel leiser als dieSchrotflinte. Der Kopf des Vogels wurde nach hinten gerissen, der Rest seines Körpers fiel einfach auf dem Boden in sich zusammen. Der Besitzer stieg in das Gehege und verscheuchte die anderen Hühner. Er nahm den erlegten Vogel in einem Stück Zeitung hoch und reichte Ainesley das Paket.
    Auf der restlichen Heimfahrt durch Farmen und Kiefernplantagen bis zu der Kleinstadt Clayville war Ainesley besserer Laune. Aus einer kleinen Flasche in einer Papiertüte, die auf dem Armaturenbrett lag, nahm er einen Schluck Jack Daniel’s, räusperte sich und setzte seinen Vortrag über das Jägerleben fort. «Ihr habt ja gesehen, wie ich diesen Vogel erlegt habe. Was hier in der Gegend mehr zählt als alles andere, ist die Treffsicherheit. In früheren Zeiten mussten die meisten Leute ihr Essen zum Teil aus dem Wald holen, und dabei konnten sie es sich nicht leisten, ihre Munition zu verschwenden. Deshalb konnten auch die Konföderierten – und in diesem Krieg damals haben die Codys ordentlich mitgemischt, das könnt ihr mir glauben – so viele von den Unionisten abknallen, bei Schlachten wie in Shiloh und Antietam. Unsere Jungs waren immer die besten Schützen. Und in Amerika waren sie auch immer schon die besten Soldaten.»
    Später setzte er seinen Vortrag über die Treffsicherheit der Südstaatler fort. «Hier in der Gegend gab es früher jedes Jahr Preisschießen. Ein Wettbewerb hieß zum Beispiel ‹Kerze killen›. Da musste man auf vierzig Meter Entfernung den Docht abtrennen und die Flamme löschen. Aber – und das ist sehr wichtig – man durfte nur die Spitze vom Docht kappen, so dass die Flamme ausging, man die Kerze aber später wieder anzünden konnte.
    Mein Dad hat mir auch von einem anderen Wettbewerb erzählt, ‹Eichhörnchen abrinden› nannten sie das. Eichhörnchenschießen war damals große Mode. Es gibt hier auf dem Land Leute, die noch heute Eichhörncheneintopf machen, mit Okra und Tomaten und so, und ich sag euch, wenn es gut gemacht ist, schmeckt das richtig gut.»
    Kichernd fügte er hinzu: «Aber Eichhörnchenfleisch muss man, natürlich mögen.» Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab.
    «Jedenfalls wollte man ja das Eichhörnchen nicht mehr zerfetzen als unbedingt nötig, und deshalb versuchte man, es abzurinden. Und das geht so. Man lässt das Eichhörnchen den Baum raufrennen und innehalten, das machen sie doch immer und schauen zurück, und dann stellt man sich gaanz langsam so auf, dass man es von der Seite sieht. Dann schießt man, aber nicht auf das Eichhörnchen, sondern auf die Rinde genau unter ihm. Wenn du das genau richtig schaffst, fliegt ein Stück Rinde hoch und erschlägt das Eichhörnchen. Und da hast du deinen Eintopf.»
    Bis sie Junior heimgebracht hatten und an ihrem kleinen Eigenheim in Clayville angekommen waren, dämmerte es schon. Wolken aus dem Golf von Mexiko ballten sich zusammen und bildeten eine weiche Decke über ihnen, so dass die Dunkelheit noch schneller kam. Mit einem sanften Windhauch, einem flüsternden Vorboten, begann es leicht und warm zu regnen.

4

    N ach dem Abendessen lag Raphael im Bett und grübelte. Blind starrte er auf den Bildschirm seines Zwölf-Zoll-Farbfernsehers, den er letztes Jahr von seinem Onkel Cyrus zu Weihnachten bekommen hatte. Zwei Zimmer weiter unterhielten sich Ainesley und Marcia mit erhobener Stimme. Die Worte verstand er nicht, aber dem Tonfall und der Lautstärke nach stritten sie. Und aus Erfahrung wusste er, dass es dabei um ihn ging.
    Beim Abendessen – es gab Kalbsleber, Rübstiel und Brötchen – hatte er den Blick der Erwachsenen gemieden und nicht einen Ton gesagt. Es war nicht so einfach, Einzelkind zu sein. Als das Geschirr abgewaschen und abgetrocknet war, war sein Vater in den Delchamps Supermarket in Clayville zum

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