Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
Vom Netzwerk:
Einkaufen gefahren. Sobald Ainesley aus dem Haus war, hatte Marcia Raff beiseitegenommen und ihm sanft die wichtigsten Ereignisse des Tages entlockt. Als er erzählte, wie sie mit dem Gewehr geschossen und das Perlhuhn erlegt hatten, war ihr hübsches, schmales Gesicht zunehmend verbitterter geworden.
    Jetzt lagen seine Eltern wie schon so oft völlig darüber im Streit, wie ihr Sohn erzogen werden sollte. Sie vertraten dabei grundsätzlich verschiedene Meinungen, die Raff spüren, aber nicht begreifen konnte. Er wusste sehr wohl, dass es um mehr ging als nur um ein Truthahnschießen. Als Zehnjähriger war er hin- und hergerissen,auf wessen Seite er sich stellen sollte. Und das war übel, denn der Graben ließ sich nicht überbrücken, und er wusste auch nicht, ob er zu einem von beiden halten musste.
    Raff befürchtete, dass Ainesley und Marcia sich trennen könnten und ihn entweder ohne Vater oder ohne Mutter zurücklassen würden. Vielleicht müsste er dann auch bei Verwandten oder gar bei irgendwelchen Fremden wohnen. In der Schule gab es Kinder, bei denen das so war. Sie wirkten zwar fast normal, ihm aber, dachte er, würde das seine Sicherheit rauben und sein Leben völlig durcheinanderbringen. Er schlief ein, während er noch nach einer Lösung aus diesem Dilemma suchte.
    Am frühen Morgen, als Raff noch schlief, ließ der Regen nach. Als sie ihn zum Frühstück weckten, war Wind aufgekommen, und Kälte lag in der feuchten Luft. Die blonde Wetterfrau auf Kanal 5 der Mobile Television sagte in ihrem knappen Midwest-Akzent, an den Küsten von Alabama und Mississippi bliebe der Himmel bedeckt, es werde aber nicht mehr regnen. Trotzdem ließ Marcia Raphael einen Regenmantel anziehen, den er hasste, und einen Regenhut, den er noch mehr hasste. Damit sah er aus wie eine Memme, fand er. Sein Vater fand das auch, und er hatte das Marcia mehr als einmal geradeheraus wissen lassen.
    Raff fuhr mit seinem Fahrrad die Charleston Street hinunter zur ersten Ampel, und dann drei Blöcke links zur Martin Luther King jr. Grammar School. Vor vielen Jahren hatte sie noch Robert E. Lee School geheißen. Den ganzen Tag war er im Unterricht nicht recht bei der Sache. Geometrie, Englisch und Amerikanische Geschichte zogen an ihm vorbei wie die Gespräche von Fremden ineinem Einkaufszentrum. Beim Essen und in der Pause hielt er sich von seinen besten Freunden fern. Ständig dachte er noch über Ainesley nach, fürchtete sich vor dem, was ihm bevorstand. Ihm graute vor den Wutanfällen, vor der Art, in der sein Vater manchmal drohend die Hand hob, als wollte er ihn schlagen, obwohl er nie wirklich handgreiflich geworden war. Er schämte sich, dass er sich geweigert hatte, einfach nur mit der Hilfe seines Vaters das Gewehr zu halten und abzudrücken. Und er hatte Schuldgefühle, dass er seiner Mutter von dem Vorfall erzählt hatte.
    Er dachte, bin ich eine Memme? Obwohl ich mich manchmal mit anderen Jungen prügele und nicht davonlaufe? Noch schlechter fühlte er sich, weil er seinen Vater enttäuscht hatte, denn er wusste, dass Ainesley ihn für einen besonderen und sehr kostbaren Jungen hielt, vielleicht am Ende sogar für einen
kleinen Mann
. Einmal hatte er aufgeschnappt, was Ainesley zu Freunden aus der Nachbarschaft über ihn gesagt hatte: «Ich würde für ihn keine Million Dollar nehmen, und keiner bekäme von mir einen roten Heller für einen anderen.»
    Als er an diesem Nachmittag aus der Schule kam, überraschte ihn sein Vater damit, dass er auf ihn wartete. Ainesley war früh aus dem Eisenwarenladen heimgekommen und saß jetzt mit einer Zigarette in der Hand in dem Schaukelstuhl auf der Veranda.
    «Steig ins Auto», sagte Ainesley, «ich will mit dir reden.»
    Über von Virginia-Eichen und gestutzten Hecken gesäumte Straßen fuhren sie nach Clayville hinein, vorbei am Gerichtsgebäude des Nokobee County und bis zu Roxie’s Ice Cream Palace. Dieser soziale Treffpunktlag, wie das Haus der Codys auch, praktisch im Zentrum – kein Wunder, denn wenn man immer weiterfuhr, war man in weniger als fünf Minuten durch ganz Clayville hindurch. Im Roxie’s zwängten sie sich hinter einen Tisch, und Ainesley forderte Raff auf, sein Lieblingseis zu bestellen. Beide wussten, dass das ein Karamelleisbecher mit gehackten Walnüssen war.
    Als Raff zu essen begann, sagte Ainesley: «Mein Sohn, es tut mir leid, dass ich gestern so grob zu dir war. Du bist noch ziemlich jung, um mit Gewehren zu schießen, und ich glaube sowieso nicht, dass

Weitere Kostenlose Bücher