Ameisenroman
Wochen quer durch das Gelände laufen, konnte alles aus der Nähe betrachten, was einem ins Auge fiel, ohne dass man davon krank wurde. Wenn man aber häufig genug kam und sich insgesamt lang genugdort aufhielt, und wenn man zudem noch beständig unvorsichtig war, konnte einen der Nokobee statistisch gesehen wie ein Blitz und aus einem wahrscheinlich ganz banalen Anlass heraus zum Krüppel machen oder töten.
Eines Tages, nur wenige Wochen nach seinem Ausflug mit Junior, lernte der fünfzehnjährige Raphael Semmes Cody diese bittere Lektion der kumulativen Wahrscheinlichkeit. Als er wie so oft um den See wanderte, fiel ihm im seichten Wasser einen halben Meter vor dem Ufer ein ungewöhnliches Tier unter der Oberfläche ins Auge. Es sah aus wie ein mittelgroßer Frosch mit einem dunklen, kreuzförmigen Muster auf dem Rücken. Solche Entdeckungen kamen für Raff wie gerufen. Von diesem Anblick ganz gefangen, trat er heran und streckte langsam eine Hand aus, um diese ihm tatsächlich unbekannte Froschart herauszuholen. Erst im allerletzten Augenblick sah er in weniger als dreißig Zentimetern Abstand zu dem Frosch eine große Wassermokassinotter. Die Schlange, die sich in einem Büschel Riedgras aufgerollt hatte, war ganz offensichtlich auf dieselbe Beute aus wie er.
Und urplötzlich war sie da, ganz vertraut in ihrer Gestalt, aber in einem völlig neuen Kontext, furchtbar, aus dieser Nähe gesehen geradezu ungeheuer riesig, den Körper durch die im Wasser stehenden Stiele des Riedgrases gewunden, die für die Art typische gelbbraune Bänderung auf der schwarzbraunen Grundfärbung, die groben kielförmigen Schuppen auf ihrem Rücken ineinandergreifend wie bei einer Rüstung, und sie war trocken, nicht etwa schleimig oder nass. Der dreieckige Kopf war hinter den mit Gift gefüllten Munddrüsen angeschwollen, der Mund in einem gnadenlosen Lächeln erstarrt. Genauso urplötzlich schnellte die Schlange vor, ihr Kopf stand wieeine Speerspitze auf dem sich entrollenden Hals nach vorne, so gerade und schnell wie ein weggeworfener Stein. Das Maul ging weit auf, darin sah man die tödlich weißen Streifen wie von verschattetem Schnee. Die Fangzähne klappten aus ihrer Tasche heraus nach vorne, und damit war die ganze Schlange ein perfekter Räuber, ein Werkzeug des Todes. Im Reflex schnellte Raff zurück, hatte seine Hand aber erst wenige Zentimeter bewegt, als die Schlange zubiss.
Die Giftzähne trafen Raff nicht direkt. Sie schlugen durch den Rand eines seiner aufgerollten Hemdsärmel und spritzten das Gift in den Stoff statt in sein Fleisch. Dann verhedderten sie sich im Stoff, als das Tier versuchte, sie herauszuziehen. Blitzschnell biss die Schlange ein zweites Mal zu, und Raff zog seinen Arm ganz zurück, so dass die Spitzen beider Fangzähne an seinem Handgelenk die Haut aufritzten, bis die Mokassinotter sich befreit hatte.
Es folgte ein Platschen und Hochwirbeln des Wassers, und sowohl die Schlange als auch der Frosch waren auf und davon, beide in entgegengesetzte Richtungen. Raff stolperte nach hinten, mit heftigen Stößen seiner Arme und Beine robbte er vom Wasser weg. Was da Ungeheuerliches passiert war – insgesamt hatte der Vorfall nicht einmal fünf Sekunden gedauert –, stand ihm kristallklar vor Augen, prägte sich ihm für immer ein. Er spürte den Adrenalinschub, und sein Verstand zerfloss in ein wirres Durcheinander. Er war von einer tödlich giftigen Schlange gebissen worden! Sie hatte ihn nicht ganz erwischt, aber die giftgefüllten Zähne hatten seine Haut geritzt. Er hatte keine Ahnung, was ihm jetzt bevorstand. Vielleicht wurde er bewusstlos, bevor er aus dem Nokobee heraus war und Hilfe holen konnte. Vielleicht würde ersterben. Er stand auf und machte sich auf den Weg zurück zum Wanderpfad. Nicht rennen, wusste er, denn mit dem schnelleren Puls würde das Gift auch schneller durch seinen Körper zirkulieren. Und wenn er versuchte, das Gift herauszuholen? Er blieb stehen und saugte ein paar Sekunden lang an den Kratzern. Er hatte auch ein Messer, und er dachte daran, die Kratzer aufzuschneiden und das Blut rundherum herauszusaugen. Dann erinnerte er sich daran, gelesen zu haben, dass diese alte Methode nicht besonders effektiv war. Womöglich verteilte man so das Gift sogar noch weiter in den Blutkreislauf.
Bisse großer Giftschlangen sind neben dem Ertrinken die gefürchtetsten natürlichen Todesursachen in der Wildnis der Golfküstenebene, wenngleich man sagen muss, dass nur sehr wenige
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