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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Ufergebüschs auf einem niedrigen Zweig hockte. Er saß stocksteif da und rief fortwährend ein monotones
swiet, swiet, swiet …
Raff brachte das Gewehr in Anschlag und schlich sich vorsichtig an den Vogel heran. Als er weniger als fünf Meter entfernt war, zielte er vorsichtig auf seinen Kopf, denn er erinnerte sich an den Rat seines Vaters, der vor Jahren das Perlhuhn erlegt hatte.
Ziel immer auf den Kopf.
Raff betätigte den Abzug. Ein leichtes Ploppen, und der Vogel kippte seitlich weg und fiel zu Boden.
    Raff lief hinüber und nahm seine Trophäe auf. Da lag der Vogel in seiner offenen Hand und starrte ihn mit ausdruckslosen Augen an. Er versuchte hochzukommen, aber er schaffte es nicht. Sein linker Flügel hing herab, offenbar war er gebrochen. Er hatte den Vogel an der Schulter getroffen. Die Beine bebten, anscheinend waren sie gelähmt.
    Raff stand vor einem schwierigen Dilemma. Wenn er den Vogel mit nach Hause nahm und versuchte, ihn gesund zu pflegen, würden seine Eltern ihn sehen, und dann käme heraus, dass er sie wegen des Gewehrs belogen hatte. Wenn er ihn einfach liegen ließ, müsste er leiden und dann doch sterben, aber das würde vielleicht noch lange dauern. Es gab nur eine Lösung: Er musste ihn töten und von dieser Qual erlösen.
    Raff legte den Vogel ab und fischte ein Notizbuch ausseiner Hosentasche. Er fertigte eine grobe Skizze von dem Vogel und notierte die Farbe: kräftig gelb mit blaugrauen Flügeln. Dann hielt er die Mündung des Luftgewehrs fünfzehn Zentimeter vor das Auge des Vogels und drückte auf den Abzug. Vorsichtig blinzelte er hinunter und sah, dass der Kopf jetzt weit nach hinten geworfen war. Der Körper regte sich nicht. Ohne ihn noch einmal zu berühren, drehte Raff sich abrupt um und ging davon, stieg auf sein Fahrrad und fuhr nach Hause.
    Zurück in seinem Zimmer, blätterte Raff durch sein Bestimmungsbuch und stieß auf eine perfekt passende Zeichnung des erlegten Vogels:
männlicher Protonotaria citrea.
Er hatte einen Zitronenwaldsänger erlegt, und das Auge in Auge, während dieser sang. Raphael Semmes Cody, der großartige Jäger, hatte einen Zitronenwaldsänger erlegt.
    Bis zum Abendessen war Raffs Erregung darüber, dass er einem Vogel aufgelauert und ihn erschossen hatte, völlig verklungen. Stattdessen empfand er jetzt Scham. Im Kampf gegen dieses Gefühl kam ihm eine Erleuchtung. Mit seinem kleinen Gewehr hatte er die Macht über den Nokobee übernommen. Das war so leicht gewesen. Aber angenommen, so dachte er, er hätte eine bessere Waffe, zum Beispiel ein Kleinkaliber; er kannte Jungen, die nur wenig älter waren als er und schon eines besaßen. Damit könnte er ganz leicht Vögel töten, alles, was er wollte, konnte er damit aus den Bäumen holen. Er konnte den Wald durchstreifen, bis er fast alle Vögel und alles, was sich sonst noch dort regte, erjagt hatte. Jeder konnte das tun, jeder beliebige Junge konnte einen Teil davon oder alles töten.
    Und dann kam Raff die schwindelerregende Erkenntnis,dass der Nokobee keineswegs ein Stück der unendlichen Natur war, wie er es als kleiner Junge empfunden hatte. Es war einfach nur ein Stück Land, das man in einer Stunde von vorn bis hinten durchqueren konnte. Der Nokobee, den er liebte, war ein gefährdetes Gebilde, und heute hatte er gedankenlos seine Anmut und Schönheit gestört.

14

    D ie Liebe, die Raff für die Geschöpfe am Nokobee empfand, konnte ihm keiner seiner Mitbürger dort erwidern. All die Vögel, Salamander und Säugetiere hatten Angst vor ihm, so sachte er sich ihnen auch näherte. Entweder zogen sie sich zurück, um auf Abstand zu bleiben, oder aber sie erstarrten, bereit, im Bruchteil einer Sekunde auf und davon zu rennen oder zu fliegen. Außer gelegentlich einer Schlange oder einer Schildkröte in der Winterstarre oder einem Frosch, der sich zwischen dem Seegras verbarg, war es so gut wie unmöglich, irgendein Tier zu fangen und zu berühren. Bestimmt wären sie alle froh, wenn sie diesen riesigen Eindringling tot umfallen sähen. Und wenn er wirklich am Nokobee umkam, würden sich ein Dutzend verschiedene Aasfresser um seine Leiche balgen, würden sie bis auf die letzten Fetzen Fleisch und Haut zernagen, bis nur das Skelett übrig war, und auch das würden die Aasfresser mit der Zeit verteilen, bevor der kaltherzige Regen die Knochen im feuchten Humus begraben würde.
    Trotzdem war der Nokobee für Menschen vollkommen sicher. Oder jedenfalls fast vollkommen sicher. Man konnte Tage oder

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