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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Menschen tatsächlich auf diese Weise umkommen. Raff hatte die Möglichkeit eines solchen Angriffs schon häufig durchdacht. In seiner Fantasie sah er dann gewöhnlich eine Diamant-Klapperschlange, die sich zusammengerollt unter totem Laub verbarg und zum Zubeißen bereit war, noch bevor man sie überhaupt bemerkt hatte. Aber nie stellte er sich vor, dass das ihm selbst passieren könnte.
    Er starrte so unbeteiligt wie nur möglich auf die fünf Zentimeter langen Kratzer auf seinem Handgelenk, während er langsam und vorsichtig zurück zu seinem Fahrrad ging. Im Abstand von etwa einer Minute hob er den Arm an und suchte nach Anzeichen einer Schwellung. Er wartete darauf, dass ein Taubheitsgefühl in seine Hand und den Arm und weiter hinauf in den Rumpf kroch, ihn allmählich lähmte und ihm die Luft abschnitt. Doch nichts geschah. Vielleicht, dachte er, hatte die Mokassinotter ihr Gift nicht direkt in seinen Kreislauf injizieren können.Schließlich kam er am Dead Owl Cove an und hob sein Fahrrad auf. Sein Herz pochte noch immer, seine Hände zitterten, aber ihm war weder schwindelig noch übel, auch sonst bemerkte er keine Symptome. Wieder und wieder spielte sich in seinem Kopf die Szene ab, während er nach Clayville hineinradelte. Als er zu Hause war, hatte er sich schon weitgehend beruhigt. Seinen Eltern erzählte er nichts von dem Vorfall, weder jetzt noch irgendwann später.
    Raff machte die Begebenheit mit der Mokassinotter zu einem Bestandteil seiner Erfahrung mit dem Nokobee Tract. Mit der Zeit wurde sie ein Teil des Ganzen. Indem sich diese und viele andere Erinnerungen allmählich überlagerten, wurde seine Bindung an diesen Landstrich immer stärker, aber auch immer konkreter. Ausgehend von seiner Leidenschaft für die Wildnis des Nokobee, entwarf er seine eigene Version einer Ethik der Nachhaltigkeit. Während Bauern das Land dafür lieben, was es ihnen an Fruchtertrag bringt, und Jäger für die Tiere, die sie töten und heimtragen, so liebte Raff den Nokobee mehr und mehr zu dessen eigenem Wohl. Dieses Stück Erde wurde ihm zu einem anderen Blick auf die Welt, einer anderen Sichtweise als die, die er in der Schule und von seinen Eltern beigebracht bekam. Er entwarf einen breiteren Zusammenhang, in den hinein er sein Bild von der Menschheit und von sich selbst zeichnete. Dieses Bild war zunächst noch verschwommen, aber mit der Zeit gewann es mehr und mehr an Schärfe. Irgendwann hatte er begriffen, dass die Natur nicht etwas war, was außerhalb der Welt der Menschen stand. Das Gegenteil traf zu. Die Natur ist die wirkliche Welt, und der Mensch existiert nur auf Inseln innerhalb von ihr.

III

DER STAPELLAUF

15

    E ines Sommertags, als Raff kurz vor seinem letzten Highschool-Jahr stand, rief Cyrus Semmes bei seiner Schwester an.
    «Marcia», sagte er, «Anne und ich wollten fragen, ob ihr alle nicht bald einmal zum Essen kommen wollt. Es gibt da ein paar wichtige Familienangelegenheiten, die ich mit dir und Ainesley besprechen möchte.»
    «Ja, natürlich, Cy. Wir kommen jederzeit gerne, das weißt du. Wir freuen uns immer, nach Hause zu kommen und euch und die Familie zu treffen. Um was für Angelegenheiten handelt es sich denn?»
    «Das sage ich dir, wenn ihr hier seid. Klappt es diesen Sonntag?»
    «Ainesley hat vormittags eine Art Angeltour vor, glaube ich, aber natürlich, und ob wir kommen. Passt es zur gewohnten Zeit?»
    «Ja. Und bringt unbedingt Scooter mit. Geht das sicher in Ordnung?»
    Als sie auflegte, rasten ihre Gedanken. Scooter, ganz bestimmt. Cy will über Scooter reden. Cy ist bei bester Gesundheit, um ein Testament kann es nicht gehen. Die Mädchen sind außer Haus, sie haben Platz, aber er wird uns ja nicht einladen, in Marybelle zu wohnen. Er will Ainesley nicht näher bei sich haben als in Clayville, und irgendeinen besseren Job wird er ihm auch nicht anbieten. Es muss also um Scooter gehen.
    Marcia dachte noch länger über den gegenwärtigen Zustand der Familie Semmes aus Mobile nach und überlegte, was Cyrus wohl vorhatte. Ihr Vater war vor fünf Jahren verstorben. Als Veteran des Zweiten Weltkriegs hatte Jonathan Semmes ein Ehrenbegräbnis in der militärischen Abteilung des Magnolia Cemetery erhalten, unter einem schlichten Grabstein, der seine Diensteinheit und sein Todesdatum verzeichnete. Dieses Grabmal bedeutete der Familie mehr als jedes Mausoleum mit steinernen Engeln und Byron-Grabsprüchen. Es waren Salutschüsse abgegeben worden, und ihre Mutter hatte die

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