Ameisenroman
«und ich weiß überhaupt nicht, warum.»
Bill Needham nickte. «Klingt so, als wäre deine Königin gestorben. Keine Königin, keine Eier, keine Larven mehr. Die Kolonie braucht nicht mehr so viel Futter, also bleiben die Arbeiterinnen zu Hause. Das ist ein bisschen so wie bei alten Leuten im Seniorenheim.»
«Aber warum sollte die ganze Kolonie ohne Weiteres so eingehen?», fragte Raff. «Soll das eine Gedenkveranstaltung sein oder so?» Auf diese Bemerkung folgte zustimmendes Gelächter, mit dem Anfänger wie Raff auf einer Käferparty nur selten bedacht wurden.
«Tja», sagte Needham, «Sie müssen begreifen, ein wie starker Stimulus eine Königin für alle Arbeiterinnen ist. Wenn sie weg ist, reagieren sie nicht mehr so stark. Dann ist ein Stück weit ihre Seele weg – sozusagen.»
Needham ließ einen Zeigefinger durch die Luft kreisenwie so oft, wenn er einen neuen Gedanken vorstellte, und fragte: «Seit wann beobachten Sie eigentlich diese Kolonie?»
«Hmm, kaum zu glauben», erwiderte Raff, «seit ich ein kleiner Junge war, ich würde sagen, seit zehn Jahren oder so. Der Ameisenhügel ist kaum zu übersehen, wenn man zum ersten Mal an den Picknickplatz kommt.»
Needham fischte ein Buch von dem Regal neben seinem Schreibtisch, suchte im Index, schlug eine Seite auf und wies auf einen Eintrag. «Kein Wunder. Bei Ameisenarten, die Ihrer ähneln, haben wir Berichte über Königinnen, die über zwanzig Jahre alt werden.»
«Zwanzig Jahre? Das ist ja mehr, als ich alt bin.»
«Stimmt. Ich gebe zu, für ein Insekt ist das eine unglaubliche Lebensspanne», sagte Needham. «Sogar länger als bei der alle siebzehn Jahre auftretenden Periodischen Zikade. Aber das ist nur bei den Königinnen ganz weniger Ameisenarten so. Ich vermute, dass wir es dabei mit einem Weltrekord in der Insektenwelt zu tun haben. Andererseits leben nur sehr wenige Arbeiterinnen länger als zwei oder drei Jahre. Und das, obwohl sie alle Töchter der Königin sind, also alle das gleiche Erbgut besitzen. Aber das Ganze ist wirklich seltsam. Was länger als diese zwei Jahre dauert, muss ihnen vorkommen wie eine Ewigkeit. Sie existieren, könnte man sagen, in einer mentalen Welt, die keinen Anfang und kein Ende kennt. Sie haben keinen Begriff dafür, dass ihre Mutter-Königin sterben könnte. Denn die ist einfach immer da. Und wenn es schließlich so weit ist, merkt anfangs noch nicht einmal das Gefolge, das die alte Dame versorgt, dass sie tot ist. Ich schlage vor, dass Sie diese Kolonie mal ausführlich in Augenschein nehmen.»
Der Tod der Königin sollte Auswirkungen haben, die innerhalb der fünf Jahre, in denen Raphael Semmes Cody ihre Geschichte festhielt, über das Schicksal der Ameisen am Dead Owl Cove entschieden. Aus diesem Grund beschlossen Needham und ich, dieses Ereignis an den Anfang der Ameisenchronik zu stellen.
IV
DIE AMEISENCHRONIK
19
E s war nicht mehr zu leugnen. Die Königin vom Trailhead war tot.
In den ersten Tagen hatte es kein erkennbares Zeichen dafür gegeben, dass ihr langes Leben zu Ende gegangen war. Kein Fieber, keine Krämpfe, kein Abschiedsgruß. Sie saß ganz einfach auf dem Boden der Königinnenkammer und starb in aller Ruhe. Wie im Leben lag ihr Körper reglos auf dem Bauch, ihre Beine und Fühler waren entspannt. Ihre Reglosigkeit allein war für ihre Töchter kein Warnsignal, dass es soeben zu einer Katastrophe gekommen war, die sie alle betraf. Sie lag einfach da, als wäre nichts geschehen. Sie war ein naturgetreues Standbild ihrer selbst geworden.
Die Täuschung beruhte auf der Art und Weise, wie Insektenkörper nach dem Tod verwesen. Während der Mensch und andere Wirbeltiere ein Innenskelett und rundherum weiches Gewebe besitzen, das schnell zu verwesen beginnt, stecken Insekten in einem Außenskelett. Ihr weiches Gewebe schrumpft innen zu trockenen Fäden und Knoten zusammen, ihr Exoskelett aber bleibt erhalten, eine voll intakte Ritterrüstung, wenn der Ritter selbst schon lange fort ist.
So merkten die Arbeiterinnen zunächst gar nichts vom Tod dieser Mutter. Ihre Ruhe hatte nichts zu besagen, und die Gerüche ihres Lebens, die immer noch von ihr ausgingen, bedeuteten:
Ich bleibe bei euch.
Sie roch lebendig.
Begünstigt wurde die Täuschung dadurch, dass sie auch im Leben nie Befehle erteilt oder sie zu irgendwelchen konkreten Aktivitäten angehalten hatte – obwohl ihr Gehirn ganz so programmiert war, dass sie, wenn sie wollte, jede ihrer Aufgaben sogar selbst erfüllen konnte.
Im
Weitere Kostenlose Bücher