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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Grunde war sie einfach ein geflügeltes Insekt, das innerhalb einer geschlechtsunreifen flügellosen Gesellschaft lebte. Die einzigen Initiativen, die sie je ergriffen hatte, hatten sich alle zu Beginn ihres Erwachsenenlebens geballt – ihr standen dann noch etwa zwanzig Lebensjahre bevor –, als sie das Nest ihrer Geburt verließ und damit zugleich ihre Mutter und ihre Schwestern zurückließ. Sie paarte sich ein einziges Mal – nie wieder sollte es Sex geben – und gründete ihre eigene neue Kolonie. Wie im Rausch legte sie in einer sehr kurzen, einsamen Aktivitätsphase fast alle instinktiven Verhaltensformen eines Weibchens ihrer Art an den Tag, und dazu noch sämtliche Aufgaben der sterilen Arbeiterinnen einer entwickelten Kolonie.
    Die erblichen Verhaltensweisen waren alle in den Sinnesorganen der Trailhead-Königin und in ihrem Nervensystem vorprogrammiert, und diese Programme kamen alle in der notwendig richtigen Abfolge ihrer Aktivitäten zum Ausdruck. Getreu reproduzierten diese Programme die Routine, der schon ihre Urahnen, die Wespen, gefolgt waren, als sie sich zu den ersten staatenbildenden Ameisen entwickelten, während sie vor über hundert Millionen Jahren zwischen den Dinosauriern herumkrabbelten.
    Als die junge Königin zu Beginn dieses Prozesses das Nest ihrer Geburt verließ, spreizte sie zunächst ihre vier Hautflügel und flog in die Luft auf. Dort gesellte sie sichzu einem Schwarm fliegender Männchen und anderer jungfräulicher Weibchen. Eines der Männchen konnte sie einfangen. Es legte die Beine wie eine Klammer um ihren Körper, und gemeinsam kreiselte das Paar zu Boden. Beim Landen nutzte er breite Haken am hinteren Ende seines Körpers, um ihre Geschlechtsorgane aneinanderzupressen und die Begattung durchzuführen. Nach fünf Minuten war der Akt beendet, und die Königin schüttelte das Männchen ab. Die gesamten Spermien, die sie erhalten hatte, strömten in ein besonderes taschenförmiges Organ in ihrem Hinterleib, wo sie bleiben sollten, bis sie zur Befruchtung von einigen ihrer Eier benötigt wurden. Das konnte freilich noch Jahre dauern. Jedes Spermium besaß potenziell eine ebenso lange Lebensspanne wie sie selbst.
    Der Vater all ihrer Kinder dagegen sollte fast unmittelbar nach der Paarung sterben. Er hatte in seinem Leben nichts anderes getan, als die Nahrung aufzunehmen, die ihm seine Schwestern hinwürgten wie einem Vogelküken, und zu warten und weiter zu warten und schließlich den einen kurzen Flug aus seinem Nest zu unternehmen, gefolgt von den fünf Minuten der Kopulation.
    Das Männchen begann sein Leben als Ei, das die Königin seiner Mutterkolonie gelegt hatte. Aus dem Ei schlüpfte eine madenförmige Larve, die von den sämtlich weiblichen Brutpflegerinnen gefüttert wurde. Sobald sie ausgewachsen war, vollzog die Larve die Metamorphose zur Puppe. Dieses Endstadium des unreifen Tiers war von einem weichen, wachsartigen vorläufigen Exoskelett umschlossen, das bereits die Form des Erwachsenen mit den drei Körpersegmenten aufwies – Kopf, Thorax und Abdomen. Ein Paar Antennen, also Fühler, und drei PaarBeine sprossen aus dem Körper. Innen wuchs das bislang undifferenzierte Gewebe im Schutz des wächsernen Außenskeletts zu den endgültigen inneren Organen heran.
    Nach Abschluss der Verwandlung wurde die Außenschicht abgestreift und von den Arbeiterinnen gefressen, und das erwachsene Männchen schlüpfte heraus, vollständig mit Flügeln, großen Augen, einem massiven Genitalapparat, rudimentären Kiefern, einem winzigen Hirn und dem einen großen Ziel in diesem winzigen Hirn, auf dessen Erreichung der baldige Tod folgen sollte.
    Kurz gesagt, das Männchen war nichts weiter als ein Lenkflugkörper voller Spermien. Seine Lebensleistung war ein einziger Samenerguss. Bis zu diesem Höhepunkt war er ein Parasit in der Kolonie seiner Mutter gewesen, ein Faulenzer, der von seinen Schwestern gefüttert und gesäubert wurde. Er leistete der Gemeinschaft keinen Dienst. Nach den seinen Lebenszweck erfüllenden fünf Minuten wurde er mit der einen Anweisung zurückgelassen, der seine Schwestern notfalls den nötigen Nachdruck verliehen.
Komm nicht mehr zurück! Stirb einfach!
    Nicht einmal versuchen würde er, ins Nest zurückzukehren. Er hatte nicht die geringste Überlebenschance. Bei seiner zierlichen Gestalt besaß er nicht einmal Verteidigungsorgane. Er hatte keine Möglichkeit, Futter aufzutreiben oder auch nur selbständig zu fressen, falls er zufällig auf welches

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