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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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stoßen sollte. Für ihn war nur die einfache Fahrt gebucht. Er würde an Dehydration sterben, im Schnabel eines Vogels zerquetscht, von den Kiefern einer feindlichen Ameise in Stücke zersägt oder aber in einem etwas langsameren Vorgang von den blutsaugenden Rüsseln eines mörderischen Käfers durchbohrt werden.
    Um demselben Schicksal zu entgehen, beeilte sich die frisch begattete künftige Königin der Trailhead-Kolonie, die ein voll ausgebildetes Gehirn und starke Muskeln besaß, Deckung zu finden. Sie musste so schnell wie möglich wieder unter die Erde kommen, sobald sie ihre Ladung Spermien erhalten hatte. Als Erstes aber musste sie sich ein paar Minuten Zeit nehmen, um ihre vier Flügel loszuwerden. Dafür beugte sie einfach ihre mittleren Beine nach vorne, presste sie an die Flügelbasis und brach sie ab. Diese Verstümmelung ließ ihren übrigen Körper völlig unverletzt. Sie war auch nicht schmerzhaft. Von Anfang an waren die Flügel nur leblose Schichten und Adern aus Chitin, die so mit dem Körper verbunden waren, dass sie sich schmerzlos leicht abknipsen und abwerfen ließen.
    Die Königin war wie eine Fallschirmspringerin, die nach der Landung ihre Ausrüstung abstreifte. Jetzt konnte sie sich schneller bewegen, um Ameisen, Spinnen und anderen Räubern auszuweichen, die rings um sie durch den Graswurzelurwald jagten. Sie hatte das Glück, auf einen freien Raum mit Grasbüscheln zu stoßen, im Ameisenmaßstab eine kleine Lichtung am Wanderpfad zum Lake Nokobee. Durch einen glücklichen Zufall war sie auf einen idealen Standort geraten. Wenn sie hier ein Nest bauen konnte, würde sie dort vielleicht zwanzig Jahre lang wohnen. Unverzüglich machte sie sich daran, in die sandige Tonerde einen senkrechten Tunnel zu graben. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und präzise, und nach wenigen Minuten hatte sie den Schacht auf mehr als ihre Körperlänge vergrößert. Er bot ihr schon einen gewissen Schutz, musste aber so schnell wie möglich fertiggestellt werden. Sie musste sich beeilen. Ihr Lebenwar weiterhin ständig in Gefahr; nicht eine Minute durfte sie verlieren.
    Bei einer festgesetzten Tiefe, die sie maß, indem sie die Zeit abstoppte, die sie zum Hinauf- und Hinunterklettern des Schachtes brauchte, drehte die junge Königin sich am Boden seitwärts und begann, einen größeren Raum auszugraben. Sie machte weiter, bis sie eine runde Kammer herausgeformt hatte, die im Durchmesser etwa dreimal so breit war wie der senkrechte Schacht. Für ihre Sicherheit war jetzt schon etwas besser gesorgt, aber garantiert war sie noch lange nicht. Räuber und plündernde Ameisen konnten noch immer den Schacht herunterklettern und sie angreifen. Immerhin aber wären eindringende Feinde jetzt von dem engen Raum zwischen den Schachtwänden behindert und müssten erst mit dem Kopf voraus dem kräftigen Stachel und den schnappenden Kiefern der jungen Königin trotzen, bevor sie ihren verletzlichen Körper erreichen konnten.
    Als sie so weit gekommen war und draußen am Trailhead die Schatten der umstehenden Kiefern immer länger wurden, hatte sie sich gegen alle Wahrscheinlichkeit durchgesetzt. Von jeweils hundert jungen Königinnen, die das Mutternest verlassen, um sich begatten zu lassen und eine neue Kolonie zu gründen, saß am Ende dieses Tages nur eine einzige in der Grundkammer eines rudimentären Nests.
    Doch trotz dieser enormen Leistung und ganz unabhängig davon, wie sicher sie ihren Unterschlupf angelegt hatte, standen die Chancen, sich am Ende wirklich durchzusetzen, immer noch sehr schlecht. Die Wahrscheinlichkeit, es nach dem Bau eines ordentlich ausgehöhlten Nestes bis zur Mutter einer ausgewachsenen Kolonie zuschaffen, betrug ebenfalls etwa eins zu hundert. Damit wäre die Trailhead-Königin statistisch gesehen die einzige von zehntausend Konkurrentinnen, die alle mit dem Vorsatz vom Mutternest ausflogen, den gesamten Prozess zu durchlaufen. Sie allein würde ein langes Leben in der tief liegenden Königinkammer eines Hügelnestes führen. Im Schutz einer Armee erbitterter Verteidigerinnen, die alle ihre Töchter waren, würde sie so sicher sein, wie ein Insekt auf der Welt nur irgend sein konnte.
    Auch als die erste Kammer fertig ausgegraben war, lag noch schwere Arbeit vor der Trailhead-Königin. Als Erstes legte sie ein kleines Häufchen Eier auf den Erdboden. Diese winzigen Stäbchen musste sie ständig belecken. Das war unbedingt nötig, denn zu der Gefahr, die von den Feinden oben ausging, kam jetzt

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