Amelia Peabody 01: Im Schatten des Todes
hört so widersprüchliche Dinge. Meine Schwägerinnen flüstern miteinander und sprechen von dem Kreuz, das eine Frau zu tragen habe, aber ich habe auch die Dorfmädchen mit ihren Liebsten gesehen, und sie scheinen kein Kreuz zu tragen. Du lieber Himmel! Ich scheine ja nicht einmal die richtigen Worte zu finden. Verstehen Sie, was ich meine?«
Evelyn starrte mich noch immer an, dann schnitt sie eine merkwürdige Grimasse und schlug die Hände vor das Gesicht. Ihre schmalen Schultern bebten.
»Sie müssen entschuldigen«, bat ich. »Natürlich wollte ich nicht … Und nun werde ich es nie erfahren …«
Aber da ließ Evelyn die Hände fallen. Ihr Gesicht war rot und noch tränenfeucht – aber sie lachte! Ich glaubte an einen hysterischen Anfall und hob die Hand.
»Nein, nein, ich bin nicht hysterisch«, wehrte sie ab. »Aber Amelia, Sie sind … Ist das alles, was Sie mich nach einer solchen Geschichte fragen können?«
Ich überlegte. »Nun, viel zu fragen gibt es da nicht. Ihr alter Großvater und der Schurke von einem Liebhaber verdienen keine Fragen. Und Ihre übrigen Verwandten müssen ebenso hartherzig sein, sonst hätten Sie sich an diese wenden können.«
»Und mein verdorbener Charakter stößt Sie nicht ab?«
»Ich halte ihn nicht für verdorben. Diese böse Erfahrung dürfte ihn eher gestärkt haben. Wissen Sie, ich hielte es für besser, Sie würden sich davon überzeugen, daß die Ihnen von mir gebotene Stellung dem entspricht, was ich sagte. Ich kann Ihnen Referenzen geben …«
»Nein, das ist überflüssig«, wehrte sie ab. »Nur eines möchte ich wissen, Amelia. Warum sagten Sie: ›Nun werde ich es nie erfahren …‹?«
»Nun, es ist unwahrscheinlich, daß ich persönlich derartige Erfahrungen mache. Ich bin ja mit dem Gebrauch von Spiegel und Kalender vertraut. Ich bin schließlich zweiunddreißig Jahre alt und unansehnlich. Ich schmeichle mir nicht. Und die in unserer Gesellschaft erforderliche Schwachheit des Weibes ist mir auch nicht eigen. Ich könnte weder einen Mann ertragen, der sich von mir beherrschen läßt, noch einen, der mich zu beherrschen versucht. Ich bin jedoch neugierig und dachte … Nun, meine Brüder versichern mir ständig, ich dächte und redete unpassend.«
»Ich habe Ihre Frage noch nicht beantwortet«, sagte Evelyn. »Es ist schwierig, eine richtige Antwort zu geben. Im Moment schüttelt es mich vor Grauen, wenn ich an die Stunden in … Albertos Armen denke, aber damals … damals …« Ihre Augen glänzten. »Oh, Amelia, unter den richtigen Umständen ist es ein herrliches, ein großartiges Erlebnis!«
»Ah, genau das dachte ich mir. Nun, meine liebe Evelyn, ich bin Ihnen für diese Information sehr dankbar. Wenn Sie jetzt also die von mir angebotenen Referenzen …«
Sie schüttelte ihre goldenen Locken. »Ich brauche keine Referenzen. Amelia, ich komme gerne mit als Ihre Reisegefährtin. Ich denke, wir werden gut miteinander zurechtkommen.«
Da küßte sie mich auf die Wange. Das erstaunte mich so, daß ich etwas murmelte und aus dem Zimmer ging. Ich hatte ja nie eine Schwester gehabt, doch jetzt war mir, als hätte ich eine gefunden. Ich kann, ohne meine Energie ungebührlich zu unterstreichen, von mir behaupten, daß ich einen einmal gefaßten Entschluß sehr schnell in die Tat umsetze. In der folgenden Woche knackte und krachte die lethargische Stadt der Päpste unter meinen Schritten.
Auch einige Überraschungen erlebte ich. Evelyn wollte ich anziehen und ausstaffieren wie eine schöne lebende Puppe, für die ich all die hübschen unpraktischen Kleider und Sächelchen zu kaufen gedachte, die ich selbst nicht tragen konnte. Das gelang mir nicht, obwohl sie mir niemals widersprach. Zum Schluß hatte sie eine entzückende, sehr geschmackvolle und erstaunlich billige Garderobe, und ich selbst hatte ganz gegen meine Absicht auch ein halbes Dutzend Kleider gekauft. Ein Abendkleid, das ich ganz bestimmt niemals anziehen wollte, war aus karmesinroter Seide mit einem so tiefen Ausschnitt, wie ich ihn noch niemals getragen hatte. Die Röcke waren über eine gewaltige Turnüre drapiert und ließen einen mit Ziermünzen bestickten Unterrock ahnen. Evelyn wählte die Stoffe aus und trieb die Schneiderin auf ihre sanfte Art viel nachdrücklicher an als ich auf meine energische. Wenn Evelyn zu mir sagte: »Dieses Kleid kannst du tragen«, dann trug ich es auch. Sie entdeckte auch meine Schwäche für bestickten Batist, und die feinen für sie gedachten
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