Amelia Peabody 04: Im Tal der Sphinx
– eng umschlungen, ich sag’s dir. Ich nehme an, man ist zu einer beiderseitigen Übereinkunft gelangt.«
»Es war ganz rührend, Emerson. Enid glaubte, er wäre tot oder tödlich verwundet und gestand ihm deshalb ihre Liebe, die sie so tapfer verborgen hatte – allerdings, das brauche ich kaum zu erwähnen, nicht vor mir. Es erleichtert ungemein, daß jetzt alles geregelt ist.«
»Ich würde sagen, nichts ist geregelt«, bemerkte Emerson. »Solange du nicht die junge Dame von ihrem Mordverdacht freisprechen kannst und den jungen Mann von Unterschlagung, Fälschung und Betrug oder was immer es gewesen sein mag, scheint ihre Hoffnung auf einen langen und glücklichen gemeinsamen Lebensweg nicht sehr aussichtsreich.«
»Aber genau deshalb wollen wir doch heute nach Kairo. Beeil dich, Emerson. Sonst verpassen wir noch den Zug.«
Dank meines Organisationstalents verpaßten wir den Zug nicht, und erst als wir uns im Abteil niedergelassen hatten, bekamen wir die Gelegenheit, uns über die interessanten Vorfälle bei Tagesanbruch zu unterhalten. Zu meiner Überraschung teilte Emerson meine These, was die Identität des unbekannten Schützen anbelangte, nicht.
»Aber es gibt keine andere Erklärung«, beharrte ich. »Der Meisterverbrecher sucht immer noch einen Sündenbock für den Mord an Kalenischeff. Außerdem hat Donald in mehreren Fällen seine Anschläge auf uns vereitelt. Selbstverständlich verbittet sich Sethos eine solche Einmischung. Oder – ich habe noch eine reizvolle Idee, Emerson – vielleicht war es gar nicht Donald, sondern meine Wenigkeit, auf die die Kugel gerichtet war.«
»Wenn das deine Vorstellung von einer reizvollen Idee ist, dann darf ich gar nicht darüber nachdenken, was du als entsetzlich bezeichnen würdest«, knurrte Emerson. »Du warst jedenfalls nicht die Zielscheibe des Attentäters, Amelia. Um ehrlich zu sein, ist die ganze Sache rätselhaft. Es ergibt alles keinen Sinn.«
»Aha«, entfuhr es mir. »Du hast eine Theorie, Emerson.«
»Selbstverständlich, Peabody.«
»Hervorragend. Jetzt haben wir wieder einen unserer fröhlichen kleinen Wettkämpfe vor uns, bei dem wir sehen werden, wer am besten raten – Schlüsse ziehen, wollte ich sagen – kann, wie die Lösung dieses äußerst verblüffenden Rätsels aussieht. Denn ich bin sicher«, fuhr ich mit einem bezaubernden Lächeln fort, »daß unsere Meinungen nicht übereinstimmen.«
»Das haben sie bislang noch nie getan, Peabody.«
»Würde es dir denn etwas ausmachen, mir den jetzigen Stand der Dinge aus deiner Sicht darzulegen?«
Emerson schwieg und brütete vor sich hin. Sein markantes Profil erinnerte mich an die bekannten Heldengestalten des Schriftstellers Lord Byron. Das dunkle Haar, das ihm in die gerunzelte Denkerstirn fiel, und der entschlossene Zug um seinen Mund wirkten äußerst anziehend. Zumindest auf mich, und hätte da nicht die verbissene alte Dame in unserem Abteil gesessen, hätte ich meinen Gefühlen keinen Zwang angetan. So allerdings begnügte ich mich damit, ihn nur anzuschauen.
Emerson brütete immer noch still vor sich hin, bis ich schließlich beschloß, das nervtötende Schweigen zu beenden. »Ich verstehe nicht, warum du die Ereignisse des heutigen Morgens so rätselhaft findest, Emerson. Selbst dem Dümmsten dürfte doch klar sein, daß der … daß Sethos statt einer Flinte eine Pistole verwendete, weil er hoffte, Donalds Tod den Anschein eines Selbstmords geben zu können. Donald wäre mit der Waffe in der einen Hand und einem Selbstmordgeständnis in der anderen aufgefunden worden – denn ich habe keinen Zweifel daran, daß dieses kriminelle Genie seine Handschrift fälschen könnte.«
»Oh, ja«, sagte Emerson voller Bitterkeit. »Du wärest nicht einmal überrascht, wenn er wie eine Fledermaus Flügel ausbreitete, in Richtung Kairo schwebte und während seines Fluges stimmungsvolle Lyrik deklamierte.«
»Stimmungsvolle Lyrik?« wiederholte ich völlig verblüfft.
»Lediglich eine Ausgeburt meiner Phantasie, Amelia. Deine Theorie eines vorgetäuschten Selbstmords scheitert an einer simplen Tatsache. Du warst dort.«
»Dann eben Selbstmord und Mord«, sagte ich unumwunden. »Sethos ließe sich von einem so winzigen Problem nicht abschrecken, und ich bin sicher, er hätte mir nach meinem Ableben keine Träne nachgeweint.«
Erneut schüttelte Emerson den Kopf. »Du erstaunst mich, Peabody. Kann es sein, daß dir nicht auffällt … Nun, aber wenn dir die Wahrheit nicht dämmert,
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