Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
ehren.« Einen Moment schlug er die Hände vors Gesicht. Dann erhob er sich. »Aber kommt jetzt. Die Stunde ist da. Mein Herz leidet, weil ich Euch verlieren soll, und ein langer Abschied macht das Scheiden noch schwerer.«
»Nefret«, fing ich an.
»Wir treffen sie dort. Beeilt Euch.«
Begleitet von einigen Soldaten, hasteten wir endlose gewundene Gänge entlang, bis wir eine verschlossene, verriegelte Tür erreichten, vor der schwerbewaffnete Wachen standen. Bei unserem Anblick ließen die Männer die Speere sinken, fielen auf die Knie und beugten sich vor, bis ihre Stirn den Boden berührte. Von einem der Männer, dessen Gesicht wir nicht sehen konnten, war eine gedämpfte Stimme zu hören: »Wir sind Eure Diener, Vater der Flüche. Wir werden Euch durchs Leben folgen bis in den Tod.«
»Sieh mal, Peabody!« rief Emerson erfreut aus. »Das sind ja Harsetef und seine Jungs. Also haben sie es doch überstanden. Das ist ja wunderbar!«
Als die Männer sich erhoben, sagte ich: »Ja, Emerson, ich freue mich auch sehr darüber, aber ich hoffe, daß sie das nicht wörtlich meinen. Es wäre recht lästig, wenn sie uns durch ganz London bis nach Kent folgten. Vor allem in diesem Aufzug.«
»Findest du wirklich? Ich hatte mich eigentlich schon darauf gefreut, sie mit Gargery bekannt zu machen. Er hat doch immer so viel Spaß an unseren Abenteuern. Und Peabody – stell dir nur Lady Carringtons Gesicht vor, wenn sie nächstens kommt, um sich über Ramses zu beschweren, und von diesem Trupp hier in voller Uniform empfangen wird …«
»Nein, Emerson.«
»Nein?« Emerson seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht. Hört denn, meine tapferen Männer, den letzten Befehl des Vaters der Flüche. Dient König Tarek so treu, wie ihr mir gedient hättet. Das Auge des Vaters der Flüche ruht auf euch, und der Segen …«
»Faß dich kurz, Emerson!« flehte ich, denn Tarek tänzelte vor Ungeduld hin und her. Emerson warf mir zwar einen gekränkten Blick zu, aber er gehorchte und schenkte Harsetef zur Erinnerung seine Pfeife. »Ich habe sowieso keinen Tabak mehr«, erklärte er, als der junge Soldat die heilige Reliquie ehrfurchtsvoll betrachtete.
Wir folgten Tarek gewundene Gänge entlang. Da der Tunnel so schmal war, daß nur zwei Personen nebeneinander hergehen konnten, hätten wenige Männer genügt, um ihn gegen eine Übermacht zu verteidigen. Endlich erreichten wir einen von hohen Klippen umgebenen offenen Platz. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Schlucht oder Felsspalte, die sich im Laufe der Jahrhunderte verbreitert hatte, so daß sie nun groß genug war, um als Pferch zu dienen. In den Felsen gehauene Nischen wurden als Ställe und Lagerräume genutzt. Ich erkannte im fahlen Mondlicht, daß wir von einem Dutzend Kamele erwartet wurden. Einige Männer saßen schon im Sattel; andere, in die losen Gewänder gekleidet, die sich zum Durchqueren der Wüste so gut eignen, scharten sich auf Tareks leisen Ruf hin um ihren König. Er gab ihnen einige kurze Befehle, worauf sie sich verteilten, um die Kamele mit der restlichen Ausrüstung zu beladen.
Tarek wandte sich zu uns um. »Nun kommt der Augenblick, vor dem mein Herz sich fürchtet«, fing er an.
Ich stieß ihn sanft mit meinem Sonnenschirm an, denn ich wußte, wir würden die ganze Nacht hier herumstehen, wenn er und Emerson erst einmal anfingen, Komplimente auszutauschen. »Auch unsere Herzen sind schwer, mein Freund. Also bringen wir es hinter uns. Ihr müßt zurück zu Euren Pflichten.«
»Wohl wahr.« Tarek lächelte wehmütig. »Es besteht immer noch die Gefahr eines Aufruhrs, und mein Onkel Pesaker sinnt auf Rache. Außerdem werde ich mich mit Murtek und den anderen Priestern auseinandersetzen müssen, wenn sie herausfinden, daß ich das älteste Gesetz des Heiligen Berges gebrochen habe. Lebt wohl, meine Freunde, meine Retter …«
»Wo sind die anderen?« unterbrach ich ihn.
»Da kommen sie.« Tarek deutete in eine Richtung, und ich sah zwei weißgekleidete Gestalten aus dem Tunnel auftauchen. »Ich sage Euch noch einmal Lebewohl.«
Er umarmte mich und Ramses und hätte dasselbe wahrscheinlich auch bei Emerson getan, hätte dieser das nicht verhindert, indem er Tareks Hand ergriff und sie heftig drückte. »Auf Wiedersehen, Tarek, und viel Glück. Ihr seid ein netter Kerl. Besucht uns, wenn Ihr einmal in England seid.«
Tarek nickte und wandte sich ab. Wahrscheinlich versagte ihm die Stimme, denn ihm stand ein noch viel schmerzlicherer Abschied bevor.
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