Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
Nach einer Weile gelang es mir, Emersons Finger von Reggies Hals zu lösen. Der junge Schurke war besinnungslos; die Zunge hing ihm aus dem Mund.
»Was machen wir jetzt mit ihnen?« fragte ich atemlos.
»Wir fesseln sie mit ihren eigenen Schleiern und überlassen sie Tarek«, antwortete Emerson. »Er wird sich bestimmt etwas Hübsches für sie ausdenken.«
»Besser er tut es als du, Liebling«, meinte ich.
»Danke, daß du mich zurückgehalten hast, Peabody. Wenigstens glaube ich, daß ich dir dafür dankbar bin … Wo zum Teufel steckt denn das Mädchen? Wenn sie nicht bald auftaucht, müssen wir sie suchen gehen.«
»Hier bin ich«, antwortete da eine liebliche, vertraute Stimme. Der Reiter, der uns durch seine schnelle Reaktion gerettet hatte, schlug die Kapuze zurück. Das Sternenlicht fing sich in zwei Zöpfen. »Es war Ramses’ Einfall, daß ich mich verkleiden und mich unbemerkt davonstehlen soll«, fuhr Nefret fort. Sie blickte hinab zu Ramses, der sich an das Vorderbein ihres Kamels klammerte und sie mit einem ganz besonders schmachtenden Ausdruck ansah. »Ohne seinen weisen Rat wäre ich vielleicht nie entkommen. Aber wir müssen uns beeilen! Wir dürfen uns nicht aufhalten. Die Morgendämmerung wird schneller da sein, als uns lieb ist.«
»Ganz richtig, liebes Kind«, meinte Emerson, löste Ramses vom Bein ihres Kamels und warf ihn auf einen Sattel. Er hing darauf schlaff wie eine Puppe. »Fertig, Peabody? Sehr gut. Es ist eine Freude, dich bei uns zu haben, kleines Fräulein. Womit hast du dem Schurken so geschickt den Arm weggerissen?«
Aus den Falten ihres Gewandes zog Nefret einen merkwürdigen Gegenstand. Ich mußte ihn zweimal ansehen, um ihn zu erkennen – es war das gebogene Zepter der altägyptischen Pharaonen und des Gottes Osiris in seiner Funktion als König der Toten. »Ich habe alle Kunstgegenstände mitgebracht, derer ich habhaft werden konnte«, meinte sie gelassen. »Ich dachte, Sie würden sie vielleicht gerne untersuchen.«
Emerson war sprachlos. Bewundernd starrte er sie an. Jetzt hatte es alle beide erwischt! Ich versetzte meinem Kamel einen kräftigen Schlag. Zitternd und ruckelnd setzte es sich in Bewegung; die anderen folgten mir. Die großen Felsen, die den Eingang verbargen, rollten beiseite. Dann bog die Karawane in den kurvigen Pfad ein, der den äußersten Rand der Klippen umrundete. Bizarre Felsenformationen säumten den Weg, doch über uns leuchteten die Sterne, und ein kräftiger Nachtwind liebkoste meine Wangen. Frei! Wir waren frei! Vor uns lag die Wüste mit all ihren Gefahren, und dahinter kam die Zivilisation – die sogar noch gefährlicher war. Aber die seltsame Vorahnung, die mich beschlich, hatte nichts mit Gefahren dieser Art zu tun. Immerhin blieb mir ein Trost: Nefret war der einzige Mensch, den ich je kennengelernt hatte, in dessen Gegenwart es Ramses die Sprache verschlug. Man konnte nur hoffen, daß dieser Zustand anhielt.
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