Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
sollte, habe ich meist Emersons Starrsinn oder Ramses’ exzentrische Anwandlungen unterschätzt – manchmal auch beides. Zur Verteidigung meiner wahrsagerischen Fähigkeiten muß ich allerdings sagen, daß die bizarre Wendung, die unsere Expedition nehmen sollte, ihre Ursache nicht in unserer kleinen ehelichen Meinungsverschiedenheit hatte. Vielmehr lag der Grund in einem überraschenden Ereignis, das keiner von uns, nicht einmal ich, hätte vorhersehen können.
Es trug sich an einem regnerischen Herbstabend zu, nicht lange nach dem Gespräch, das ich bereits geschildert habe. Ich hatte verschiedene Vorbehalte gegen Emersons Pläne für diesen Winter, nachdem die durch seine Überzeugungsversuche ausgelöste Euphorie verflogen war. Und ich hatte keine Hemmungen, diese Vorbehalte laut zu äußern. Obwohl der Norden des Sudan bis hinunter nach Dongola offiziell »befriedet« war und unter ägyptischer Besatzung stand, wäre nur ein Dummkopf davon ausgegangen, in dieser Region ungefährdet reisen zu können. Die unglücklichen Bewohner der Gegend hatten einen Krieg, Unterdrückung und Hungersnot durchmachen müssen. Viele waren obdachlos, es fehlte an Lebensmitteln, und wer ohne bewaffnete Eskorte zwischen ihnen herumlief, forderte seine eigene Ermordung geradezu heraus. Emerson tat diesen Einwand ab. Wir würden nicht zwischen ihnen herumlaufen, sondern in einem Gebiet arbeiten, das unter militärischer Besatzung stand. Außerdem seien einige seiner besten Freunde ohnehin …
Nachdem ich mich mit seinen Plänen abgefunden hatte – und ich gebe zu, die Aussicht auf Pyramiden, meine große Leidenschaft, hatte darauf einigen Einfluß –, traf ich eilig die Vorbereitungen für unsere Abreise. Nach so vielen Jahren hatte ich zwar einige Routine darin, doch wenn wir uns in eine so abgelegene Region vorwagten, würden wir besondere Vorsichtsmaßnahmen treffen und eine Unmenge zusätzlicher Ausrüstung einpacken müssen. Natürlich half mir Emerson kein bißchen. Er brütete tagaus, tagein über merkwürdigen Folianten, um ihnen das wenige Bekannte über die Ureinwohner des Sudan zu entnehmen. Ansonsten führte er stundenlange Gespräche mit seinem Bruder Walter. Walter war ein brillanter Linguist, der sich auf die alten Sprachen Ägyptens spezialisiert hatte. Bei der Aussicht, Texte in der geheimnisvollen und immer noch nicht entzifferten meroitischen Sprache in die Finger zu bekommen, geriet er ganz aus dem Häuschen. Anstatt Emerson von seinem gefährlichen Vorhaben abzubringen, bestärkte er ihn noch darin.
Walter hatte meine liebe Freundin Evelyn, Enkelin und Erbin des Herzogs von Chalfont, geheiratet. Ihre Ehe war sehr glücklich und mit vier – nein, damals waren es, wie ich glaube, schon fünf – Kindern gesegnet. (Man verlor bei Evelyn leicht den Überblick, wie mein Gatte einmal unflätig bemerkte. Dabei übersah er, wie Männer es so häufig tun, daß sein Bruder mindestens ebensoviel Anteil daran hatte.) An besagtem Abend waren Evelyn, Walter und ihre Kinder bei uns zu Besuch. Sosehr ich mich auch über die Gelegenheit freute, meine liebste Freundin, meinen Schwager, den ich sehr schätze, und natürlich auch ihre fünf (oder waren es doch sechs?) reizenden Kinder wiederzusehen, hatte ich sie aus einem ganz bestimmten Grund eingeladen. Ich hatte die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, Emerson davon zu überzeugen, Ramses in England zurückzulassen, wenn wir zu unserer gefährlichen Reise aufbrachen. Ich wußte, ich konnte mich auf Evelyn verlassen. Sie würde – ebenso wie ich – ihre sanften Überredungskünste einsetzen. Und aus Gründen, die ich nie begreifen werde, liebte sie Ramses abgöttisch.
Es ist unmöglich, einen Eindruck von Ramses zu vermitteln, indem man seine Eigenheiten beschreibt. Man muß ihn in Aktion erleben, um zu verstehen, wie selbst die bewundernswertesten Eigenschaften verdreht oder so übertrieben werden können, daß sie sich von Tugenden ins Gegenteil verwandeln.
Damals war Ramses zehn Jahre alt. Er konnte Arabisch sprechen wie ein Eingeborener und drei verschiedene altägyptische Schriften ebenso mühelos lesen wie Latein, Hebräisch und Griechisch – was bedeutet, daß er sie wie seine Muttersprache beherrschte. Außerdem kannte er eine Unmenge schmutziger arabischer Lieder und vermochte auf fast allem zu reiten, was vier Beine hatte. Andere nützliche Fähigkeiten hatte er nicht.
Er liebte seine hübsche, sanfte Tante, und ich hoffte, sie würde ihn dazu überreden,
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