Amelia Peabody 08: Der Ring der Pharaonin
behaupten, daß David und sein Großvater einen freundschaftlichen Umgang miteinander pflegten; der Junge vertrug sich viel besser mit den anderen, besonders mit seinem Onkel Daoud, der kein Kind von Traurigkeit war. Aber ich wußte, daß dem Jungen kein Leid geschehen würde, solange Abdullahs Adleraugen auf ihm ruhten.
Sein Aussehen hatte sich gebessert, seit er bei uns war. Die meisten Verletzungen waren abgeheilt; ich hatte ihm die Haare geschnitten und bestand darauf, daß er sich häufiger wusch, als er es für nötig hielt. Allerdings wirkte der Junge wahrscheinlich noch immer recht kläglich, denn Evelyns Gesicht bekam einen mütterlichen und mitleidigen Ausdruck. Sie war jedoch zu klug, um dieses Gefühl zur Sprache zu bringen. »Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen«, sagte sie statt dessen. »Wenn du ein Freund von Ramses bist wirst du auch mein Freund sein.«
»Wir sind Blutsbrüder«, erklärte Ramses.
»Wirklich?« rief ich aus. »Mein Gott, Ramses …«
»Eine kleine Menge dieses Lebenssaftes war leider notwendig«, entgegnete Ramses und versetzte David einen leichten Rippenstoß. Wahrscheinlich erinnerte er ihn daran, daß von ihm eine Antwort erwartet wurde.
Der Junge fuhr zusammen. Er hatte Evelyn angestarrt.
»Wie geht es Ihnen?« Er sprach jedes Wort langsam und mit Bedacht aus. Als Ramses lobend nickte, fuhr David fort: »Sie haben das gleiche Gesicht wie Sitt Miriam in dem Buch. Sie ist wunderschön. Sie hält … haltet?« Er warf Ramses einen fragenden Blick zu, doch diesem hatte es vor Erstaunen die Sprache verschlagen. »Haltet«, wiederholte David, »das Kind. Sie sieht ihn an. Wie geht es Ihnen?«
Sitt Miriam nennen die ägyptischen Christen die Jungfrau Maria. Die kleine Ansprache überraschte mich ebenso wie Ramses. Ich wußte nicht, wieviel Evelyn davon verstanden hatte, aber sie war sichtlich gerührt und streckte ihm die Hand entgegen. David ergriff sie, und nach einem kurzen Zögern schüttelte er sie feierlich. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen.«
Ramses zog ihn fort.
»Ach, du meine Güte«, sagte Emerson und blickte ihnen entgeistert nach. »Offenbar haben wir einen Kavalier unter uns. Ich frage mich, wieviel von dieser hübschen Rede Ramses ihm eingetrichtert haben mag.«
»Wahrscheinlich nicht sehr viel«, antwortete ich. »Hübsche Reden sind nicht Ramses’ Stärke.«
»Hmpf«, brummte Emerson. »Nun, Amelia, wenn der Höflichkeit nun Genüge getan ist, würde ich gerne mit meiner Arbeit fortfahren.«
Wir folgten ihm zum Fuße des Abhangs, wo Selim gerade einen Korb entgegennahm und ihn auf den allmählich wachsenden Schutthaufen entleerte.
»Ist das ein Teil der Aufschüttung?« wollte Walter wissen. »Offenbar ist nichts Wichtiges dabei. Warum wirfst du das Zeug nicht einfach in die Schlucht?«
»Anscheinend hast du meine Grundsätze vergessen«, erwiderte Emerson tadelnd. »Bis jetzt haben wir zwar noch nicht viel gefunden, doch das ist keine Entschuldigung für schlampige Arbeit. Wenn du mich jetzt entschuldigst; ich steige hinauf.«
Walter war an die Manieren seines Bruders gewöhnt. »Ich komme mit. Ich will unbedingt das Grab sehen.«
»Wie es aussieht, ist die Treppe noch nicht fertig, Walter«, wandte Evelyn ein.
Das stimmte; Mohammed kauerte auf dem Boden und zimmerte daran. Es war eine einfache Konstruktion aus hölzernen Stufen und Stützen mit Latten, an denen ein Seil als Geländer befestigt werden konnte.
Walter richtete sich auf. »Die Strickleiter genügt mir.«
»Du solltest wenigstens zuerst deine Stiefel und vielleicht Handschuhe anziehen, um deine Hände zu schützen.«
Ich hätte ihr sagen können, daß dies die falsche Herangehensweise war. Männer verhalten sich wie kleine Jungen, wenn jemand – besonders eine Frau – ihren Mut in Frage stellt. Möglicherweise hätte Walter nachgegeben (für einen Mann ist er ziemlich vernünftig), wenn nicht in diesem Augenblick jemand, so rasch und geschickt wie ein Akrobat, die Leiter heruntergeklettert wäre. Geschmeidig kam er auf dem Boden auf, zog den Hut und verbeugte sich vor den Damen.
Seine Anmut ließ den armen Walter noch schwächlicher und unsportlicher erscheinen. Noch nie habe ich einen Mann kennengelernt, dessen Körperbau dem meines Gatten gleichkommt, doch Sir Edwards Arbeitskleidung – besonders das schweißnasse Hemd – brachte seine muskulöse Gestalt vollendet zur Geltung.
Emersons Begrüßung war typisch: »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich Sie heute nicht
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