Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
keine Sorgen, daß du mich erneut verletzen könntest. Ich werde dir keine Chance geben.«
»Jetzt ist es aber genug!« rief Nefret aufspringend. »Zum Teufel mit dir, Ramses, du hirnrissiger Idiot!«
»Mehr als genug«, stimmte Emerson zu. »Ramses, mein Junge –«
»Ich versichere dir, Vater, mir ist nichts passiert.« Ramses hob sein Messer auf. »Wenn ihr mich bitte entschuldigt, ich werde gehen und mich waschen.«
»Wenn ihr mich bitte entschuldigt«, sagte Nefret an uns gewandt, »ich werde gehen und mich um Ramses kümmern. Ich habe ihm erklärt, daß er den Verband nicht abnehmen darf.«
Emerson räusperte sich. »Äh … meine liebe Nefret, ich weiß, daß du es gut meinst, aber glaubst du nicht, daß er umgänglicher wäre, wenn du … äh … ihn freundlich bitten würdest, statt ihn zu beschimpfen?«
»Hmhm«, sagte Nefret leicht betreten. »In Ordnung, Professor, ich werde es versuchen. Komm und hilf mir, David. Wenn liebevolle Überzeugungsarbeit nicht fruchtet, wirst du ihn festhalten müssen.«
»Was ist hier eigentlich los, Peabody?« wollte Emerson wissen.
»Vielleicht bin ich wirklich ein törichter Narr, aber ich glaube nicht, daß er sich ernsthaft verletzt hat.«
»Sicherlich hat er das nicht.«
Meine Stimme klang etwas verunsichert. Emerson legte seinen starken Arm um meine Schultern und murmelte tröstende Worte. Er erhält nur selten Gelegenheit, mich wie eine furchtsame kleine Frau zu behandeln, und genießt es daher um so mehr.
Vollkommener Unsinn, gewiß. Ich bin recht vertraut im Umgang mit tödlichen Waffen aller Art. Ich trage selbst mehrere bei mir: Pistole und Messer und natürlich meinen Sonnenschirm. Und mein scharfer Verstand hatte sich auch nicht von dem Schaukampf der beiden Jungen verunsichern lassen; ich hatte sie schon häufiger mit ihren bloßen Fäusten oder mit Messern kämpfen sehen, und ich wußte, daß beide eher gestorben wären, als den anderen zu verletzen. Warum beschlich mich dann ein Gefühl, als krampften sich eisige Hände um mein Herz? Konnte es sein, daß ich nicht die friedliche Gegenwart, sondern eine tödliche Zukunft vor Augen gehabt hatte – die gräßliche Vision einer noch ausstehenden Begegnung?
Während des Abendessens stellte David erneut die Frage, was wir mit unseren Lieben anstellen sollten, die sich gerade auf ihrer Reise zu uns befanden. Ich versicherte ihm, daß ich die Sache nicht vergessen, sondern lediglich verdrängt hatte, da wir uns mit brisanteren Problemen beschäftigen mußten.
»Sie haben gestern morgen in Marseille abgelegt und werden nicht vor dem kommenden Montag in Alexandria eintreffen«, erklärte ich. »Das sind noch zwei weitere Tage.«
»Einer«, widersprach Ramses. »Der Dampfer trifft im Morgengrauen ein. Wenn wir sie also von einem Besuch abbringen wollen, sollte einer von uns am Sonntag den Zug nach Kairo nehmen.«
»Ich glaube, daß wir neulich abends etwas überreagiert haben«, sagte ich. »Sicherlich ist die Gefahr für sie nur geringfügig, und sie wären enttäuscht, wenn sie nicht kommen dürften.«
»Besonders Lia«, stimmte Nefret zu. »Sie hat sich so auf diesen Besuch gefreut. Den ganzen Winter über hat sie Arabisch gelernt.«
»Man sollte sie wenigstens warnen«, sagte ich. »Ich werde den Zug nehmen …«
»Kommt überhaupt nicht in Frage, Peabody«, sagte Emerson und funkelte mich an. »Meinst du, ich wüßte nicht, was du vorhast? Deine Gedanken sind wie ein offenes Buch für mich. Ich werde nicht zulassen, daß du Kairo durchstreifst, Antiquitätenhändler verhörst, die Polizei verärgerst und …«
»Einer der Jungen könnte mich begleiten.«
»Nein«, sagte Nefret ebenso bestimmt wie Emerson. »Vergeßt Kairo, die Reise ist viel zu gefährlich. Vierzehn Stunden im Zug, mehrere Aufenthalte – gütiger Himmel, schließlich würdest du dich mit einem Gewehr in den Rippen oder einem Messer im Rücken wiederfinden.«
»Was schlägst du denn vor?« fragte David ungewöhnlich aufgebracht. »Einer von uns muß hinfahren, das steht vollkommen außer Frage, und logischerweise muß die Wahl auf mich treffen. Mich würde niemand behelligen.«
Ich glaube, die anderen waren ebenso sprachlos wie ich. Einen Augenblick lang war das Surren der um die Lampe kreisenden Insekten das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach. Eine Motte, die von dem tödlichen Lichtkegel angezogen wurde, fiel in den Glaszylinder und verglühte mit einem kurzen Aufflackern.
»Red nicht wie ein verdammter Idiot«,
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