Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
der Mann ist ein Meister der Verstellung. Und du weißt nicht, wie alt Sethos wirklich war, als du ihm das erstemal begegnet bist. Auch ein junger Mann kann herausragend sein und eine große Leidenschaft entwickeln.«
Ramses zuckte zusammen. Nefret hielt inne, während sie den frischen Verband um seine Hand wickelte. »Zu fest?«
»Nein. Brings endlich hinter dich, ja?«
»Undankbarer Kerl«, sagte Nefret ohne jeden Groll. »Es gibt noch ein weiteres Verdachtsmoment hinsichtlich dieses Herrn. Als wir ihm das erstemal begegneten, bezeichnete er sich als armen Verwandten, als jüngeren Sohn, der für seinen Lebensunterhalt arbeiten mußte. Ihr habt gehört, worüber er neulich abends sprach – über eine Erbschaft von einem Onkel, die ihn finanziell unabhängig macht. Was macht er dann in Ägypten? Warum taucht er ausgerechnet jetzt auf? Alles klar, mein Junge. Fertig.«
»Danke.« Er bewegte die Finger, die aus dem Verband hervorlugten. »Es liegt mir zwar fern, eine faszinierende Theorie zu durchkreuzen, aber ich kann mir einen anderen Grund für Sir Edwards erneutes Auftauchen vorstellen, der nichts mit kriminellen Aktivitäten zu tun hat.«
Nefret sank zurück auf ihre Fersen und lächelte ihn an. »Mich.«
»Dich. Ja.«
»Oh, er ist interessiert«, sagte Nefret ruhig. »Er wäre vielleicht sogar noch interessierter, wenn ich ihn ermutigte.«
»Du hast schamlos mit ihm geflirtet!«
»Selbstverständlich.« Nefret kicherte. »Das macht doch Spaß. Ramses, du bist ein solch alter Puritaner! Wenn es dich beruhigt, ich bin nicht verliebt in Sir Edward. Er ist überaus attraktiv und charmant, aber das läßt mich kalt.«
»Dann war er also nicht der Mann, den du getroffen … Tut mir leid. Es geht mich nichts an.«
»Du meinst in London?« Ihr leises Kichern steigerte sich zu lautem Gelächter. »Nein, es geht dich wirklich nichts an, aber wenn du nicht so verflucht neugierig gewesen wärst, hätte ich es dir verraten. Das war einer der Medizinstudenten vom Saint Bart’s. Naiv wie ich bin, glaubte ich, er interessiere sich für meinen Geist. Dem war nicht so. Können wir uns jetzt wieder dem Geschäftlichen zuwenden?«
Ramses nickte. Noch vor wenigen Tagen hätte ihn die Nachricht begeistert, daß sich Nefret weder für Sir Edward noch für den unseligen Medizinstudenten interessierte (er wünschte, er wäre zugegen gewesen, als sich Nefret mit den unrühmlichen Absichten dieses Burschen auseinandersetzen mußte). Und jetzt gab es einen anderen, weitaus gefährlicheren Rivalen. Oder etwa nicht? Er fragte sich, ob er allmählich den letzten Rest Verstand verlor.
»Vermutlich handelt es sich bei Sir Edward nicht um Sethos«, gab Nefret zu. »Sethos würde sein Leben für Tante Amelia hergeben! Vielleicht hat er sogar Sir Edward beauftragt, sie zu beschützen!«
»Mein Gott, du fängst an, diesen Kerl romantisch zu verklären«, stellte Ramses angewidert fest.
»Er ist romantisch«, sagte Nefret verträumt. »Erleidet die Qualen der hoffnungslosen Leidenschaft für eine Frau, die er niemals besitzen kann, beobachtet sie im verborgenen …«
»Du hast zu viele Trivialromane gelesen«, bemerkte Ramses zynisch. »Wenn Sethos immer noch in Mutter verliebt ist, ist er selbst hinter ihr her. Wenn nicht, würde ihn auch ihre Verteidigung nicht interessieren.«
»Gütiger Himmel, was bist du für ein Zyniker!« entfuhr es Nefret.
»Ein Realist«, korrigierte Ramses. »Desinteressierte Leidenschaft ist ein Widerspruch in sich. Welcher Mann würde – einmal abgesehen von diesen Schundromanen – sein Leben für eine Frau aufs Spiel setzen, die er nicht besitzen kann?«
»Hast du nicht auch deins für Layla riskiert?«
Ramses rutschte ungemütlich auf seinem Stuhl hin und her. »Wie zum Teufel kommen wir eigentlich auf solche Themen? Was ich sagen wollte war, daß ein weiterer Verehrer von Mutter eine überflüssige Komplikation darstellt. Wann stößt Sir Edward zu uns?«
»Morgen. Wir haben viel Platz, wenn Onkel Walter und die anderen nicht kommen.«
Ramses nickte. »Ich hoffe nur …«
»Was?«
»Daß sie sich von einer Rückreise überzeugen lassen.« Abwesend rieb er sich die Seite.
Nefret legte ihre Hand auf die seine. »Tut es weh? Komm, ich gebe dir ein Schlafmittel.«
»Es tut nicht weh, es juckt nur. Ich brauche kein Schlafmittel. Trotzdem lege ich mich besser hin. Es war ein ziemlich anstrengender Tag.«
Es wurde eine noch anstrengendere Nacht. Er träumte erneut von einem Kampf in der
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