Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
meinte Ramses schroff.
»So würde ich es nicht ausdrücken, auch wenn ich deine Empörung nachvollziehen kann«, sagte ich. »David, wie kannst du nur annehmen, daß wir einer dir drohenden Gefahr gleichgültig gegenüberständen? Du bist einer von uns.«
»Ganz recht«, sagte Emerson. »Keiner von uns fährt hin. Ich würde die Aufgabe selbst übernehmen, kann mich jedoch nicht darauf verlassen, daß ihr anderen euch vernünftig verhaltet. Ich werde Selim und Daoud nach Kairo schicken.«
»Verstand und Muskelkraft«, sagte ich und lächelte. »Das ist die ideale Lösung, Emerson. Sie können einen Brief von mir mitnehmen, in dem ich die Situation schildere und darauf dränge, daß Walter das nächste Schiff zurück nach England nimmt. Es sei denn, wir lösen den Fall noch vorher.«
»Noch vor Sonntag morgen?« fragte Ramses stirnrunzelnd.
»Gib dich nur ja keinen Illusionen hin, Peabody«, knurrte Emerson.
»Hmmm«, meinte Nefret.
»Wir können zumindest einen Anfang machen«, sagte David. »Morgen in Luxor …«
»Wovon redest du?« Emerson starrte ihn an. »Morgen ist ein ganz normaler Arbeitstag.«
»Also komm, Emerson, du hast doch sicherlich nicht vor, die Arbeit wiederaufzunehmen, als sei nichts geschehen«, entfuhr es mir.
»Ich habe nicht vor«, sagte Emerson, »irgend jemandem, ob Mann, Frau, Freund oder Feind, zu erlauben, meine Exkavationen zu unterbrechen. Was zum Teufel ist los mit dir, Peabody? Was zum Teufel geht in euch allen vor?« Mit einem funkelnden Blick seiner blauen Augen musterte er uns. »Wir haben uns schon in ähnlich schwierigen Situationen befunden und waren mit ebenso skrupellosen Widersachern konfrontiert, Riccetti und Vincey und –«
»Spar dir die übrigen«, sagte ich. »Emerson, ich gestehe, daß es sich dabei um eine lange Liste handelt. Vielleicht hast du recht. Wir werden uns nicht im Haus verkriechen und Schatten auflauern. Wir lassen uns nicht einschüchtern!«
»Ein wahrhaft mutiges Geständnis, Mutter.« Ramses klang belustigt, obwohl seine Gesichtszüge keinerlei Regung preisgaben. »Allerdings vertraue ich darauf, daß du nichts gegen gewisse Vorsichtsmaßnahmen einzuwenden hast.«
»Und die wären?«
»Exakt die, die Mrs. Vandergelt vorgeschlagen hat. Mehrere Wachen, die das Haus rund um die Uhr im Auge behalten. Keiner von uns verläßt das Anwesen allein, sondern nur in Begleitung. Haltet Ohren und Augen offen, und traut niemandem.«
»Das gilt auch für David und dich«, sagte Emerson, während er seinen Sohn intensiv beobachtete. »Ihr kommt morgen mit ins Tal.«
»Ja, Vater.«
Mit einer solchen Bereitwilligkeit hatte Emerson nicht gerechnet. Über seine angespannten Gesichtszüge glitt ein Lächeln. »Es wird dir gefallen, mein Junge. Wir haben den Eingang von Nr. 5 freigeräumt, und Ayrton hat einige Vorratstruhen entdeckt!«
»Tatsächlich. Welch aufregende Neuigkeit, Vater.«
»Ja. Du kennst das Gebiet.« Emerson schob seinen Teller von sich und nahm eine Handvoll Obst aus dem Korb. »Hier ist Nr. 5, diese Feige ist der Eingang zu Ramses dem Sechsten …«
Nicht einmal eine Morddrohung kann Emerson nachhaltig von den Freuden der Exkavation abbringen. Ich mischte mich auch nicht ein, als er die Zuckerdose auf dem Tisch ausleerte und die ungefähre Lage von Ned Ayrtons Fund demonstrierte. Sein überragendes Selbstvertrauen hatte auch meine Fassung wiederhergestellt. Ich schämte mich dafür, daß ich mich – wenn auch nur kurz – einem Gefühl der Schwäche hingegeben hatte. Und wie töricht war meine Vorstellung einer Disharmonie gewesen! Wir alle hegten tiefe Gefühle füreinander. Selbst Brüder konnten sich nicht näher stehen als Ramses und David.
Aus Manuskript H
Auf dem Fenstersims kauernd, wartete er eine ganze Zeitlang und beobachtete den Lichtstrahl, der durch die geschlossenen Fensterläden des elterlichen Schlafzimmers fiel. Sicherlich diskutierten sie. Das war nichts Neues. Es würde wie üblich enden, aber heute abend brauchten sie verflucht lange.
Im Mondlicht wirkte der Innenhof still und friedlich. Sein Vater hatte den Vorschlag seiner Mutter abgewiesen, daß dieser beleuchtet werden sollte, und er stimmte dem absolut zu. Die optimale Lösung bestand nicht darin, Eindringlinge abzuschrecken, sondern sie auf frischer Tat zu ertappen. Außerdem war es unwahrscheinlich, daß ein solcher Fall eintrat. »Sie« würden es nicht wagen, in das Haus einzudringen, wenn es auch einfachere Möglichkeiten gab.
Sie hatten einige der von
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