Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
Nefret, daß mir Laylas Tod nicht mehr bedeutete als …«
»Doch, das würde er. Du brauchst dich nicht zu verstellen.« Sie brach ab. »Wenn sie ermordet worden wäre, dann nur deshalb, weil sie dir geholfen hat. Du würdest dich schuldig fühlen. Genau wie ich.«
»Nefret –«
»Diese Frau – dieses Mädchen – war eine Prostituierte, nicht wahr? Mittlerweile muß sie jemand identifiziert haben oder zumindest festgestellt haben, daß kein … kein ehrbares Mädchen ihres Alters vermißt wird. Sie wußte etwas … sie bat uns um Hilfe … und sie brachten sie um. Ich habe das Mädchen in den Tod geschickt.«
Emerson hatte ebenfalls gelauscht. Er hörte das unterdrückte Schluchzen und Ramses’ leises Gemurmel. Er blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht um, aber seine Hand umklammerte meine Finger mit einer solchen Kraft, daß sie schmerzten.
Als wir das Haus erreichten, hatte sich Nefret, zumindest rein äußerlich, wieder gefangen. Wir hatten uns angewöhnt, die Veranda – insbesondere nach Einbruch der Dunkelheit – zu meiden, und versammelten uns statt dessen im Salon. Evelyn brachte Lia trotz deren lauter Proteste zu Bett, da selbst Nefret sie nicht verteidigte. Es war eindeutig, daß noch einiges der Klärung bedurfte, und da jeder Lias Verhalten einzuschätzen wußte, wäre es sinnlos gewesen, das leicht erregbare Mädchen an unserer Diskussion teilhaben zu lassen.
Emerson machte seine Runde, überprüfte die Türen, Tore und Fenster. Als er zurückkehrte, berichtete er, daß Daoud darauf bestanden habe, weiterhin Wache zu halten.
»Früher war er keineswegs so pflichtbewußt«, bemerkte er. »Scheinbar hat er Lia unter seine Fittiche genommen.«
»Nicht zu vergessen, riesige Fittiche«, fügte ich hinzu und grinste. »Sie könnte bei keinem sicherer sein als bei Daoud.«
Mein kleiner Versuch eines Scherzes entspannte die Atmosphäre ebensowenig wie die von Fatima servierten kalten Platten. Wo auch immer er gewesen war, Sir Edward war jedenfalls zurückgekehrt und nahm an unserem Kriegsrat teil.
Er hatte von dem toten Mädchen gehört und war sichtlich betroffen. Kopfschüttelnd sagte er: »Auch Daoud ist nicht unsterblich. Ich hoffe, Sie glauben mir, wenn ich zu Ihnen als Freund spreche und Mr. und Mrs. Emerson darauf dränge, ihre Tochter so rasch wie möglich zurück nach England zu begleiten.«
Das Ganze hätte mich belustigt, wenn der Anblick von Walters unentschlossenem Gesichtsausdruck nicht so schmerzlich gewesen wäre. Er war mit Leib und Seele Ägyptologe und hatte die Arbeit vor Ort lange genug entbehren müssen. Der Tag im Tal hatte sein Interesse erneut geschürt. Aber wie jeder echte Engländer wollte auch er nicht zulassen, daß sich seine Lieben Gefahren aussetzten.
»Dann tappen wir also immer noch völlig im dunkeln?« fragte er. »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß ihr es mit einer Bande ägyptischer Diebe zu tun habt, die zwar besser organisiert und auch skrupelloser als die meisten anderen, aber bei weitem nicht so gefährlich wie die Schurken sind, auf die ihr in der Vergangenheit gestoßen seid. Beide Mordopfer waren Ägypter …«
»Ist ihr Tod deshalb weniger bedeutend?« fragte Emerson leise. Stirnrunzelnd blickte Walter ihn an. »Versuch nicht, mir die Worte im Mund umzudrehen, Radcliffe. Das habe ich damit nicht gemeint, und das weißt du auch. Die traurige Tatsache ist doch, daß es wesentlich ungefährlicher ist, einen Ägypter umzubringen als einen Europäer wie beispielsweise einen Engländer. Die Behörden machen sich nicht einmal die Mühe, solche Todesfälle zu klären. Die von ihnen angewandte, grausame Mordmethode ist ebenfalls bezeichnend.«
»Du hast völlig recht, Walter«, entfuhr es mir. »Darauf habe ich bereits hingewiesen, aber niemand wollte mir Glauben schenken. Ein Kult! Ein Totenkult, wie der der Kali …«
Emerson unterbrach mich mit einem lauten Schnauben.
»Warum nicht?« fragte Walter. »Die Anhänger des Thug-Unwesens behaupten von sich, ihrer Göttin Opfer darzubringen, aber sie rauben diese nicht aus. Eine geheime Organisation mit allen Auswüchsen eines Kultes – Ritualmord, Blutschwüren und so weiter – ist leichter zu kontrollieren als eine gewöhnliche Verbrecherbande.«
»Diese These ist eine Überlegung wert, Onkel Walter«, sagte Ramses höflich. »Religiöser Fanatismus war für eine ganze Reihe von scheußlichen Verbrechen verantwortlich.«
Walter schien geschmeichelt. Es geschah nicht oft, daß
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