Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
handeln könnte, da der Junge zu den harmlosesten mir bekannten Zeitgenossen zählte. Von Zeit zu Zeit wurde Emersons Gesichtsausdruck von einem Anflug von Wut überschattet, und mir war klar, daß er sich die zahllosen Besucher aus Mr. Davis’ tolpatschigem Freundeskreis vorstellte, die in die Grabkammer der neu entdeckten Gruft hineinplatzten. Wenigstens würde unser Plan Emerson vom Tal fernhalten, was alles in allem nur vorteilhaft sein konnte. In der Abgeschiedenheit ihres Zimmers hatte Lia unseren Plan von ihren Eltern erfahren. Evelyn zufolge – die sehr mitgenommen und unglücklich wirkte – hatte sie ihn ruhiger aufgenommen als erwartet. Allerdings beschlich mich eine gewisse Vorahnung. Lia ähnelte ihrem Onkel nicht im geringsten, doch an diesem Morgen vermittelte mir ihr trotzig vorgeschobenes Kinn etwas seltsam Vertrautes. Sir Edward erwies sich als besonders charmant, und aufgrund unserer beider Bemühungen entspannte die Atmosphäre allmählich. Wir wollten den ganzen Tag fortbleiben, mit den Tempeln des Ramesseums und Medinet Habu beginnen und schließlich nach Gurneh zurückkehren, wo wir von Abdullah und seiner Familie zum Essen eingeladen waren.
Ich möchte den werten Leser nicht mit Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten von Luxor langweilen. Diese finden sich nicht nur in meinen früheren Bänden, sondern auch im Baedeker. Daß wir ihrer überdrüssig waren, wäre nicht unbedingt korrekt, da mich die ägyptischen Baudenkmäler niemals werden langweilen können; dennoch glaube ich, daß unsere Ausgelassenheit in erster Linie mit Lia zusammenhing. Die Freude an der Gegenwart überlagerte ihre Sorge um die Zukunft; mit rosig überhauchten Wangen und zerzausten Locken nahm sie alles wie ein wißbegieriger Student in sich auf. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie intensiv sie sich im Verlauf des vergangenen Jahres auf ihr Studium vorbereitet hatte. Evelyn hatte mir gesagt, daß sich David freundlicherweise bereit erklärt habe, das Kind den Sommer über als Tutor zu betreuen. Er war ein hervorragender Lehrer gewesen. Sie kannte sämtliche Namen und die komplizierte Geschichte der Ausgrabungsstätten; und als sie die Kartusche Ramses II. ehrfürchtig mit ihrem Finger berührte und mit leuchtenden Augen die Hieroglyphen vorlas, bedauerte ich die widrigen Umstände, die ihren Besuch überschatteten, noch um so mehr. Wie gut erinnerte ich mich noch an die Erregung, die sich meines gesamten Körpers bemächtigt hatte, als ich die Pyramiden zum erstenmal in voller Größe vor mir sah und ich in die dunklen Tiefen dieser erstaunlichen Baudenkmäler vordrang! Nun, etwas Derartiges würden wir ihr in späteren Jahren bieten.
Unser Besuch bei Abdullah war ein voller Erfolg. Das Haus war mit Blumen und Palmwedeln wie für eine Hochzeit geschmückt, und Kadija hatte so viel gekocht, daß es für zwanzig Personen ausgereicht hätte. Lia probierte von allem und versuchte, wie Nefret im Schneidersitz zu hocken. Ihre Versuche, arabisch zu sprechen, zauberten selbst auf Abdullahs ehrwürdiges Gesicht ein Lächeln. Sie behandelte den lieben alten Mann mit einer anrührenden Hochachtung. Unbeirrt von falscher Betonung und schlechter Grammatik, gelang es ihr dennoch, sich verständlich zu machen. Genau wie sie es mit Daoud angestellt hatte, dachte ich mit einem Blick auf dessen strahlendes Gesicht. Er besaß ein großes Herz – man hätte meinen können, es füllte seinen ganzen Körper aus –, und jetzt hatte er erneut einen Menschen gefunden, den er bedingungslos beschützen würde.
Nachdem wir das Mahl beendet hatten, gingen die Männer zum Plaudern ins Freie, und wir hatten etwas Zeit für Kadija. Sie sprach nur wenig – vermutlich war Nefret die einzige, mit der sie scherzte! –, offensichtlich jedoch hatte auch sie den Besuch genossen. Auf unserem Heimweg besichtigten wir noch einige der fürstlichen Grabmäler. Lia hätte sicherlich kein Ende gefunden, da Evelyn jedoch erschöpft wirkte, erinnerte ich die anderen daran, daß wir zum Abendessen bei Cyrus und Katherine eingeladen waren.
»Ein recht ausgefüllter Tag«, bemerkte Emerson, nachdem er mich beiseite genommen hatte.
»Im wahrsten Sinne des Wortes.« Ich tätschelte meinen Bauch. »Ich bezweifle, daß ich heute abend noch irgend etwas essen kann. Aber das Kind hat sehr viel Spaß. Wie schade, daß sie schon bald abreisen muß. Ist das wirklich notwendig, Emerson?«
»Vorsicht ist besser als Nachsicht, Peabody.« Er grinste mich an.
»Siehst du,
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