Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
Evelyn an den verwahrlosten, verstoßenen Jungen dachte, der ihr Herz im Sturm erobert hatte – und dessen Herz sie nun nach Kräften malträtierte.
Ich glaube, wir waren alle erleichtert, als der Zeitpunkt der Abreise schließlich gekommen war. Wir hatten die Geschäfte durchstreift; Walter hatte seine Tochter mit Geschenken überhäuft: einem bestickten Kleid, einer Goldkette mit Lapisperlen, Amuletten und Andenken aller Art. Sie nahm sie dankend, aber ohne jede Begeisterung in Empfang. Sie hielt sich bewundernswert. Erst als wir den Bahnhof erreichten und sahen, wer uns dort erwartete, verlor sie ihre Fassung.
Abdullah sah großartig aus. Er trug sein bestes Gewand aus weißer mit Goldborten gesäumter Seide und seinen blütenweißen Turban. Sein von einem schlohweißen Bart umrahmtes Gesicht strahlte die Würde eines Pharaos aus. Auch Daoud trug seine beste Kleidung: einen langen gestreiften Kaftan aus Seide und Baumwolle und dazu einen bunten Kaschmirschal. Sein Gesicht wirkte alles andere als würdig.
Abdullah streckte Walter seine Hand entgegen. »Möge der Allmächtige dich und die Deinen immer beschützen, Effendi. Möge es dir Wohlergehen, bis wir uns wiedersehen.«
Walter ergriff die Hand des alten Mannes und schüttelte sie heftig. Er sagte nichts. Ich glaube auch nicht, daß er zu einem einzigen Wort fähig gewesen wäre.
Mit den formellen Abschiedsworten wandte sich Abdullah an Evelyn und Lia. Dann war Daoud an der Reihe. Statt die ihm von Lia hingehaltene Hand zu ergreifen, drückte er ihr einen Gegenstand in die Handfläche – ein ungefähr fünf Quadratzentimeter großes, flaches goldenes Kästchen mit kunstvollen kufischen Lettern. Es war ein Glücksbringer, der Verse aus dem Koran enthielt – sehr alt und sehr wertvoll.
»Das ist ein starker Talisman, kleine Sitt. Er wird dich beschützen, bis du wiederkommst.«
Ich konnte es ihr nicht verdenken, daß sie die Fassung verlor. Auch ich hatte Tränen in den Augen. Tränenüberströmt sank das Mädchen in Daouds Arme.
»Wir müssen unsere Plätze aufsuchen, Schätzchen«, sagte Walter, während er sie sanft von ihm wegschob.
Ich erinnere mich nur ungern an diesen Abschied. Der schlimmste Augenblick kam am Schluß, als sich Lia, nachdem sie alle umarmt hatte, David zuwandte und ihm ihre zitternde kleine Hand entgegenstreckte. Sie hatte ihm ihr Versprechen gegeben und war entschlossen, es zu halten – selbst auf die Gefahr hin, daß es sie umbrachte, und ich bin sicher, daß sie in diesem Augenblick das Gefühl hatte, der Ernstfall wäre bereits eingetreten.
»In Gottes Namen, nun küß ihn schon«, sagte Ramses plötzlich. »Dieses eine Mal werden sie es dir schon nicht verbieten.«
Wir standen winkend auf dem Bahnsteig, bis der Zug abfuhr und eine dunkle Rauchwolke aus dem Schornstein in den Abendhimmel aufstieg. Daoud und Abdullah hatten sich diskret zurückgezogen, dennoch nahm ich an, daß sie uns zum Westufer begleiteten; es wäre unhöflich gewesen, ihnen keinen Platz auf unserem Boot anzubieten. Ich trat Abdullah nur ungern gegenüber, obwohl es dafür absolut keinen Grund gab (versicherte ich mir). Seine überragende Würde und seine überaus guten Manieren würden dafür sorgen, daß er mich nicht einmal mit anklagenden Blicken behelligte.
Auf die Konfrontation mit meinen Kindern war ich ebenfalls nicht erpicht. Nefret hatte mich den ganzen Tag mit feindlichen Blicken durchbohrt, und Ramses … Wer hätte gedacht, daß ausgerechnet Ramses zu einer solch romantischen Geste fähig war? Er hatte sie einander praktisch in die Arme getrieben, und keiner, nicht einmal Walter, war imstande gewesen, es ihnen zu verbieten.
Wir verlangsamten unsere Schritte, und wie von mir erwartet, schlug Emerson Daoud und Abdullah vor, die Rückreise auf unserem Boot anzutreten. Sir Edward, der mir seinen Arm angeboten hatte, kündigte an, daß er in Luxor bleiben wolle, da er dort zum Abendessen eingeladen sei. »Mit Abdullah und Daoud an Ihrer Seite benötigen Sie mich sicherlich nicht«, fügte er hinzu.
»Sie sind sehr hilfsbereit und sehr zuvorkommend gewesen, Sir Edward«, erwiderte ich. »Ich kann nur annehmen, daß Sie Ihr Verständnis von britischer Noblesse oblige motiviert hat, da Sie uns nichts schuldig sind.«
»Das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft und die Ehre Ihrer Wertschätzung sind ein mehr als angemessener Lohn für die kleinen Dienste, die ich Ihnen erweisen konnte.«
Das klang so gestelzt wie eine Romanpassage – oder wie einer
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