Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
daran klebte. Auf den einzelnen Seiten hatte ich eine ganze Reihe von Zeilen durchgestrichen und darübergekritzelt. Meine komplexen Gedankengänge bieten sich einfach nicht der schriftlichen Fixierung an. Allerdings wußte ich ganz genau, was ich sagen wollte und würde.
»Ich stimme mit Ramses überein. Wir sollten nicht die Zeit mit Zerknirschung und Bedauern vergeuden. Wenn sich einer von uns falsch verhalten hat, dann hat sie … äh … er oder sie es nicht besser gewußt. Nichts ist so vergänglich wie …«
»Peabody«, mischte sich Emerson ein. »Bitte. Vermeide Aphorismen, soweit dir das möglich ist.«
Das Funkeln in seinen anziehenden blauen Augen entsprang eher Belustigung als Verärgerung. Die gleiche Herzlichkeit stand auf den Gesichtern der anderen geschrieben – mit Ausnahme natürlich von Ramses’. Da sein Gesichtsausdruck jedoch nicht mürrischer war als sonst, schloß ich, daß unsere frühere Harmonie wiederhergestellt und jeder Groll vergessen war.
»Gewiß, mein Lieber«, sagte ich. »Ich setze voraus, daß ihr alle die Vorgeschichte von unseren Zusammentreffen mit Sethos kennt. Ramses hat sie David und Nefret vermittelt, und Cyrus hat Katherine davon erzählt? Hmmm, ja, das dachte ich mir. Während meines … äh … privaten Gesprächs mit ihm erhielt ich gewisse Zusatzinformationen. Nach langer und reiflicher Überlegung sehe ich die nachfolgenden Fakten hinsichtlich dieses Vieraugengesprächs als möglicherweise aufschlußreich an.
Sethos besitzt eine private Antiquitätensammlung. Was er sagte … äh …« Ich tat so, als würde ich meine Notizen zu Rate ziehen. Das war nicht notwendig, denn ich vergesse niemals diese Worte oder den Blick dieser unbeschreiblich verwandlungsfähigen Augen, als er sie äußerte. »Er sagte: ›Die schönsten Stücke behalte ich selbst.‹« Ein leises Knurren entwich Emersons Kehle, und Ramses bemerkte mit mehr Taktgefühl, als ich ihm zugetraut hätte: »Sicherlich erfüllt der Papyrus diese Kriterien. Was hat er denn noch gesagt?«
Ich wollte schon den Kopf schütteln – bemerkte Nefrets aufmerksamen, aber auch kritischen Blick- und seufzte. »Daß Emerson zu den wenigen Menschen auf dieser Welt zählt, die ihm gefährlich werden könnten. Er erklärte mir nicht, warum. Er behauptete, er hätte noch keiner Frau irgend etwas zuleide getan. Er versprach … Nein, ich will es ganz exakt formulieren. Er gab mir zu verstehen, daß er nie wieder in mein Leben treten oder meinen Lieben etwas antun würde.«
»Vermutlich hast du diesen Satz mißverstanden«, sagte mein Sohn trocken.
»Was noch?« wollte Nefret unerbittlich wissen. »Was sein Wissen um unsere persönlichen Gewohnheiten und unser Privatleben betrifft … Nun, laßt mich es einmal folgendermaßen ausdrücken. Er kennt Ramses gut genug, um zu vermuten, daß er sich für die Kunst der Verstellung interessiert und daß er mit Leichtigkeit als Ägypter durchgehen könnte. Hat sich ein solcher Verdacht erst einmal erhärtet, durchschaut ein geschickter Beobachter vermutlich die wahre Identität von Ali der Ratte. Und noch eins, Ali tauchte lediglich dann in Kairo auf, wenn wir auch dort waren. Das ist alles, was ich an Aufschluß reichem beisteuern kann. Das ist die Wahrheit, Nefret.« Es war die Wahrheit – zumindest war ich davon fest überzeugt. Es wäre keineswegs gerecht und auch nicht zutreffend, mir eine Fehleinschätzung vorzuwerfen, denn zu diesem Zeitpunkt hatte keiner von uns auch nur die leiseste Ahnung … Aber Rechtfertigungen passen nicht zu mir. Ich befand mich im Irrtum, und der Preis, den ich dafür zahlen mußte, wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen.
Nachdenkliches und (was Nefret anbelangte) irgendwie skeptisches Schweigen schloß sich dem an. Allerdings stellte niemand meine Erklärung in Frage. Schließlich sagte Ramses: »Das bringt uns keinen Schritt weiter, oder?
Es läßt weder darauf schließen, daß Sethos nicht hinter dieser Geschichte steckt, noch beweist es, daß er der Drahtzieher ist. Wenn der Vorfall in London nichts mit den anderen zu tun hat, dann haben wir es mit einem weiteren unbekannten Widersacher zu tun, der David und mich möglicherweise gegen den Papyrus austauschen wollte. Wenn Sethos der führende Kopf ist, hat er uns nur gefangengenommen, um an Mutter heranzukommen. Ist das nicht demütigend, David? Niemand will uns allein wegen unserer sympathischen Ausstrahlung.«
»Könnte ich mir diesen faszinierenden Papyrus einmal anschauen?«
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