Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
fragte Cyrus. »Er muß schon bemerkenswert sein, wenn irgendein Bursche so viel riskiert, um ihn zurückzubekommen.«
»Ist er«, bestätigte Ramses.
»Wie Papyri nun einmal so sind«, sagte Emerson, den Papyri weniger beeindrucken als manch anderen. »Bring ihn her, Ramses.«
Ramses tat, wie ihm geheißen. Cyrus stieß einen leisen Pfiff aus. »Er ist wirklich ganz hervorragend. Mr. Walter Emerson wird in Begeisterungsstürme ausbrechen.« »Onkel Walter!« David sprang auf. »Gütiger Himmel!
Er und Tante Evelyn und Lia … Sie dürfen nicht kommen! Sie könnten sich in schreckliche Gefahr begeben.« »Also, David, sei nicht so melodramatisch«, sagte ich.
»Es besteht kein Grund zu der Annahme …«
»Trotzdem hat er recht«, mischte sich Emerson ein.
»Im Augenblick wissen wir weder, was zum Teufel da vor sich geht, noch warum. Drei weitere potentielle Opfer würden das Problem noch verstärken. Wir sollten sie besser ausladen.«
»Dafür ist es zu spät«, erwiderte ich düster. »Heute morgen haben sie vor Marseille abgelegt.«
Katherine war diejenige, die die bedrückte Stimmung mit einer einfachen Erklärung zerstreute. »Man soll stets mit dem Schlimmsten rechnen und Schritte zu dessen Verhinderung unternehmen.«
»Genau das wollte ich gerade sagen«, entfuhr es mir.
»Schritte! Wir müssen Schritte unternehmen! Äh … welche Schritte?«
Ihr ausgeglichenes, rotwangiges Gesicht hatte etwas sehr Beruhigendes. »Zum einen ergreift ihr jede nur mögliche Maßnahme, um euch selbst zu schützen. Trefft Sicherheitsvorkehrungen für das Haus, und geht nicht ohne Begleitung aus. Zum zweiten verschiebt ihr euren Familienbesuch oder sagt ihn ab. Zweifellos können Evelyn und Walter auf sich selbst aufpassen, das Mädchen jedoch nicht; sie wäre lediglich eine weitere Gefahrenquelle. Und drittens müßt ihr herausfinden, wer die dafür Verantwortlichen sind, und diese stellen.«
»Ein ganz schön ehrgeiziges Programm, mein Schatz«, sagte Cyrus kopfschüttelnd. »Und wo fangen wir an?«
Es rührte mein Herz, daß er von »wir« sprach, hatte jedoch eigentlich nichts anderes von ihm erwartet.
»In Gurneh, ganz klar«, verkündete Ramses. »Und alle gemeinsam, wie Mrs. Vandergelt vernünftigerweise vorgeschlagen hat.«
Ich hatte damit gerechnet, daß das Dorf außer sich vor Aufregung war, da mittlerweile sicherlich jeder Einwohner die Vorfälle der vorangegangenen Nacht kannte, die sich wie ein Lauffeuer von einem zum anderen verbreiteten, was unter Analphabeten vielfach die Hauptinformationsquelle darstellt. Als wir jedoch den gewundenen Pfad entlangritten, bemerkte ich, daß der Ort ungewöhnlich ruhig war. Einige Leute begrüßten uns; von anderen sahen wir nur ihre wehenden Umhänge, während sie hinter ihren Mauern Zuflucht suchten.
»Das war doch Ali Yussuf«, entfuhr es mir. »Was hat er denn nur?«
Emerson schmunzelte. »Ein schlechtes Gewissen, meine liebe Peabody. Selbst wenn er nichts mit der nächtlichen Episode zu tun hat, befürchtet er, daß wir ihn für das verantwortlich machen, was den Jungen zugestoßen ist.«
»Da drängt sich einem das Mißtrauen doch geradezu auf, Emerson. Wie hätten diese Schurken denn so dreist sein können, ihre Gefangenen hierherzubringen, wenn nicht einige der Dorfbewohner mit ihnen gemeinsame Sache machten?«
Ramses ritt voraus, doch er hört die Wasserflöhe im Nil husten, wie die Ägypter sagen. Er drehte sich zu uns um. »Das war nur ein vorübergehendes Versteck, Mutter. Im Schutz der Dunkelheit hätten sie uns an einen anderen Ort gebracht.«
Als wir auf Abdullahs Haus zuritten, stand Kadija im Türrahmen. Sie erklärte uns, daß weder Abdullah noch Daoud zu Hause seien. »Verflucht«, sagte Emerson. »Ich habe Daoud erklärt, daß er den alten Burschen da raushalten soll. Wohin wollten die beiden, Kadija?«
Daouds Frau verstand Englisch, auch wenn sie es nicht sprach. Der schwarze Schleier vermittelte ihr etwas Geheimnisvolles, als sie Emerson die von ihm erwartete Antwort mitteilte.
»Verflucht«, wiederholte Emerson. »Vermutlich ist die ganze Bande dort.«
»Nicht alle«, erwiderte Kadija auf arabisch. »Einige stellen Fragen, Vater der Flüche. Viele Fragen von vielen Leuten. Wollt ihr nicht eintreten, Tee trinken und warten?«
Wir lehnten dankend ab und wollten schon weiterreiten, als Kadija mit würdevoller Entschlossenheit aus dem Haus trat. Ihre Hand, riesig und schwielig wie die eines Mannes, ruhte für einen Augenblick auf Davids
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