Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
war schon immer tagelang ohne nennenswerte Schlaf- und Erholungspausen ausgekommen und erwartete das auch von seinen Mitstreitern. Ramses wäre eher zusammengebrochen, als eine Schwäche zuzugeben, trotzdem forderte die Symbiose aus körperlicher Erschöpfung und mentaler Überlastung ihren Tribut, und gegen Ende des Tages hätte er am liebsten erleichtert aufgeseufzt, als seine Mutter verkündete, daß sie die Arbeit vorzeitig einstellten. Eine weitere gute Nachricht resultierte aus ihrer Beteuerung, daß sie für die nächsten Tage keine weiteren Einladungen annehmen würden – außer natürlich innerhalb der Familie. Sie hätten noch eine Menge aufzuarbeiten, behauptete sie.
Aber im Grunde genommen wollte sie Geoffrey und Nefret lediglich für eine Weile unter ihre Fittiche nehmen, um letzterer ins Gewissen zu reden und ersteren unter ihre Fuchtel zu bekommen – wo er jede Menge Gesellschaft hatte.
Als Lia Ramses zu einem Abendessen zu dritt auf die Amelia einlud und hinzufügte, daß er dort übernachten könne, falls sie sich verplauderten, kam es ihm vor, als hätte ihn jemand aus dem Fegefeuer errettet. Er hatte sich beileibe nicht so in der Gewalt, wie er gehofft hatte. Nach ihrer Heimfahrt von dem Freudenfest hatte er demonstrativ das Haus verlassen, um einen nächtlichen Spaziergang zu unternehmen, da er es nicht mit ansehen konnte, wie Nefret und ihr Ehemann ihre Schlafzimmer betraten. Da er erst spät zurückkehrte, hatte er kaum geschlafen.
Da er ohnehin beabsichtigte, verschiedene Themen mit David zu diskutieren, beschloß er, die drängendsten Probleme als erstes anzusprechen. Sie saßen auf dem Oberdeck, dem früheren Lieblingsplatz seiner Mutter, und der hatte sich kaum verändert mit seinen alten, gemütlichen Schaukelstühlen, den niedrigen Sitzhockern mit ihren zerschlissenen Seidenbezügen, der flatternden Markise über ihren Köpfen und dem Teegeschirr auf dem kleinen Tisch. Lia bestand darauf, daß er sein Jackett auszog und seine Füße hochlegte. Erst als er zur Ruhe kam, begriff er, daß seine Erschöpfung sehr stark mit seiner nervlichen Anspannung zusammenhing.
»Du bist wirklich ein kleiner Schatz«, sagte er grinsend.
Sie streckte ihm die Zunge heraus. »Du auch. Für einen Mann«, fügte sie hinzu.
David strahlte die beiden an. »Es ist schön, wieder hier zu sein und die Arbeit aufnehmen zu können. Du hattest recht, Ramses; das ist ein verflucht langweiliges Gebiet! Ich hatte das Gefühl, ständig das gleiche Grab zu photographieren – ein paar Knochen hier, einige Tonscherben dort, zersplittertes Holz und alter Mörtel. Nur der Professor würde einen solchen Müllhaufen archivieren lassen.« »Geoffrey war uns heute eine große Hilfe«, wandte Lia ein. »Sein Arabisch ist zwar nicht sonderlich gut, aber er ist ein erstklassiger Exkavator, selbst gemessen an den Standards des Professors. Methodisch und gewissenhaft.
Ramses – wie stehst du zu seiner Idee, die Seiten zu wechseln?«
»Darüber wollte ich mit euch beiden reden.« Sie reichte ihm eine Tasse Tee, die er dankend nickend annahm.
»Das war ein recht ungewöhnlicher Vorschlag, der eigentlich gar nicht zu ihm paßte. Nicht so sehr wegen der Sache als solcher, sondern weil er Vater und Mr. Reisner zuvor nicht informierte – ganz zu schweigen von mir.« »Ja, aber exakt so muß man mit dem Professor umgehen«, erwiderte David augenzwinkernd. »Für mich gehört er zu den furchteinflößendsten Persönlichkeiten, die ich kenne. Wenn man ihm nicht von Anfang an Paroli bietet, ist man zu ewigem Schweigen und zur Knechtschaft verdammt.«
»Wie du«, warf seine Frau mit einem zärtlichen Blick ein.
»Nun, es hat mich viel Mühe gekostet«, gestand David.
»Sehr viel Mühe. Ich stimme dir zu, Ramses, daß Geoffrey vielleicht etwas vorschnell reagiert hat, trotzdem handelt es sich um einen plausiblen Vorschlag. Man kann ihm nicht übelnehmen, daß er in Nefrets Nähe sein möchte.« »Oder mich aus dem Weg räumen will?«
Er hoffte, daß er das nicht näher erklären mußte. Falls sie es nicht selbst bemerkten, sah er sich zu dem heimlichen Eingeständnis gezwungen, daß er jeden Bezug zur Realität verloren hatte. Nach einer langen, nervtötenden Gesprächspause meldete sich Lia zu Wort.
»Er gehört nach wie vor zu den Verdächtigen, nicht wahr? Daran hat sich nichts geändert. Und – ja –, falls er wirklich derjenige ist und er den Kampf nicht aufgibt, hat er ohne dich freiere Hand. Du bist eine nicht zu
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