Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
Nefrets Heirat erfahren, bat mich, ihr die herzlichsten Glückwünsche zu übermitteln, und fügte augenzwinkernd hinzu, daß sie nachvollziehen könnten, warum Nefret so wenig Zeit an der Klinik verbracht habe. Als ich meine Bewunderung für ihre Arbeit zum Ausdruck brachte, schüttelte sie traurig den Kopf.
»Meine medizinische Ausbildung beschränkt sich auf die Gynäkologie, Mrs. Emerson. Wir brauchen einen Chirurgen, aber wo sollen wir diesen finden? Selbst wenn sich ein Mann bereit erklärte, diese Aufgabe zu übernehmen, bekämen wir vermutlich Schwierigkeiten mit der Glaubensgemeinde. Und Frauen sind nur selten auf diesem Spezialgebiet ausgebildet.«
Als wir aufbrechen wollten, sagte sie: »Vielleicht sollte ich besser nicht fragen; aber Sie erwähnten, daß der Vater des Kindes Engländer ist. Kann er Sie bei der Suche nach der jungen Frau nicht unterstützen?«
»Er war ein Tourist«, erwiderte ich. »Ich glaube, es handelte sich keinesfalls um eine längerwährende Beziehung.«
»Ihre berühmte Ironie spricht Bände, Mrs. Emerson. Diese unverantwortlichen Geschöpfe werden auch aus Schaden nicht klug.«
»Ich glaube, jetzt werden Sie ironisch«, entgegnete ich. »›Unverantwortlich‹ ist gelinde gesagt Untertreibung. Abgesehen von der moralischen Problematik, laufen sie Gefahr, sich äußerst unangenehme Krankheiten zuzuziehen.«
»Wie viele Männer – und Frauen – leiten ihre Handlungen von Sicherheitsüberlegungen und gesundem Menschenverstand ab?« lautete die Gegenfrage. »Die Schlaueren unter ihnen greifen zu den üblichen Vorsichtsmaßnahmen.« Ihr anziehendes Gesicht verfinsterte sich, und dann fuhr sie zögernd fort: »Die ganz Schlauen nehmen ausschließlich Mädchen, die noch … noch unberührt sind.«
Als wir vor der Klinik standen, nahm Ramses meinen Arm. »Mutter, es tut mir leid. Ich dachte, du wüßtest das alles.«
»Ich weiß, daß solche Dinge passieren. Und ich bemerkte, daß sie noch sehr jung war …« Ich war nicht in der Lage, meinen Satz zu beenden.
»Ich hätte dich niemals mitnehmen dürfen. Verzeih mir.«
Ich gab mir einen Ruck. »Du mußt mir verzeihen, Ramses. Ich glaube, ich gebe mich nur selten einer Schwäche hin. Aber es ist eine Sache, einen solch gräßlichen Akt als Abstraktum zu sehen, eine ganz andere jedoch, diese als Tat eines Mannes zu werten, den man kennt – eines Mannes, dessen Hand man geschüttelt hat.«
»Ja«, antwortete Ramses. »Ich verstehe.«
Die Terrasse des Shepheard’s war wie jedesmal zur Teezeit überfüllt, dennoch habe ich nie Schwierigkeiten, einen Tisch zu finden. Inzwischen gehörte das Hotel Mr. Baehler, und der Direktor, der seinen Platz eingenommen hatte, war genauso zuvorkommend. Ich schlenderte in den Waschraum; als ich zurückkehrte, erwartete Freddy mich bereits, um mir einen hervorragenden Tisch in der Nähe der Brüstung zuzuweisen. Ramses gesellte sich erst später zu mir. Ich vermutete, daß er einen Bekannten getroffen hatte. Also vergnügte ich mich damit, die vorübergehenden Passanten zu beobachten, von denen mich einer, wie ich bald feststellen sollte, ebenfalls bemerkte.
Percy trug Zivilkleidung, deshalb erkannte ich ihn erst, als er auf mich zukam. Völlig verblüfft, gelang es mir nicht, mein Entsetzen und meinen Abscheu zu verbergen, selbst wenn ich das gewollt hätte. Er bemerkte meinen Gesichtsausdruck und sprach hastig auf mich ein.
»Tante Amelia! In der vergangenen Woche war ich ständig im Shepheard’s, weil ich dich hier anzutreffen hoffte. Darf ich dich zum Tee einladen?«
»Nein. Am besten verschwindest du, bevor ich meine dir gegenüber gehegte Einschätzung so laut zum Ausdruck bringe, daß sie niemandem auf dieser Terrasse verborgen bleibt!«
»Ach.« Sein Gesicht nahm einen leidenden Ausdruck an. »Dann sind die Gerüchte, die ich gehört habe –«
»Ich weiß nicht, was du gehört hast. Sofern diese meinen Sohn eines der hinterhältigsten Verbrechen bezichtigen, das ein Mann begehen kann, handelt es sich um Lügen. Wenn du nicht jedes Gefühl für Anstand verloren hättest, würdest du Ramses exkulpieren und die Gesellschaft derjenigen meiden, die die Wahrheit kennen.«
»Aber genau das habe ich vor!« entfuhr es Percy hitzig. »Mich auf jeden Fall bei dir zu exkulpieren. Willst du denn nicht meine Version der Geschichte hören? Du warst doch früher nicht so ungerecht.«
Demonstrativ blickte ich auf die an meinem Revers befestigte Uhr. »Ich gebe dir 60 Sekunden.«
Er war stehen
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