Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
Maude und ihr Bruder sowie Mr. Godwin. Vermutlich suchen sie uns.« »Warum?« wollte Emerson wissen.
»Weil wir gestern erwähnten, daß wir das Ausgrabungsgebiet aufsuchen wollten. Ein reiner Höflichkeitsbesuch.«
»Du und deine Höflichkeitsbesuche«, brummte Emerson. »›Infame Neugier‹ träfe den Nagel vermutlich auf den Kopf. Haben sie nichts Besseres zu tun, als mich zu belästigen?«
»Scheinbar nicht. Mr. Reisner weilt immer noch im Sudan, und ihre gemeinsame Saison beginnt erst im Januar. Zweifellos möchten sie uns ihre in diesem Gebiet gesammelten Exkavationserfahrungen mitteilen.« Die jungen Leute hatten uns bald erreicht. Miss Maude wirkte sehr geschäftsmäßig in ihrem geschlitzten Rock mit passender Jacke und handgenähten Schnürstiefeln. Ich nahm nicht an, daß sie uns ihre Exkavationseindrücke zugute kommen lassen wollte, schließlich hatte sie keine; meine Vermutung für den Grund ihres Auftauchens bestätigte sich rasch, denn ihr strahlendes Gesicht verfinsterte sich, als sie Ramses’ Abwesenheit feststellte.
Geoffrey hielt sich bescheiden im Hintergrund und überließ es Jack Reynolds, den Großteil der Unterhaltung zu bestreiten. Er hatte mehrere Wochen damit zugebracht, die Friedhöfe rund um die Pyramide (seine Bezeichnung) freizulegen, und bot sich für einen Rundgang an.
Emerson nahm das Angebot sichtlich erfreut an, und wir gingen gemeinsam los, wobei die untröstliche Miss Maude das Schlußlicht bildete. Während ich Jacks Ausführungen lauschte, beeindruckte mich seine Kompetenz zunehmend, obwohl er bereitwillig zugab, daß ihnen nicht die entsprechende Zeit in diesem Gebiet geblieben sei und er von daher viele der von Emerson gestellten Fragen nicht beantworten könne.
Jacks Aussage zufolge war das Bauwerk tatsächlich irgendwann einmal fertiggestellt worden. Es hatte sich um eine Stufenpyramide wie die prachtvolle Grabstätte Djosers bei Sakkara gehandelt, die aus 14 Stufen beziehungsweise Ebenen bestand. Die ursprüngliche Höhe einzuschätzen wäre ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen, da die oberen Ebenen zu einem riesigen Geröllhaufen verwittert waren. Mr. Reisner hatte das Fundament auf der Ostseite und einige nördlich gelegene Teile freigelegt; der Rest war immer noch unter Schuttmassen verborgen. Auf der Nordseite klaffte ein riesiges Loch, das den Blick auf Steinstufen freigab, die im spitzen Winkel in tiefste Dunkelheit führten. Trotz der kurzen Zeitspanne, die seit Mr. Reisners Tätigkeit verstrichen war, hatte der Wüstensand die Öffnung bereits wieder halb zugeweht.
»Ist das der Eingang zu den unterirdischen Gängen?« fragte ich, während ich mich vorbeugte und hineinspähte.
»Ja, Ma’am. Seien Sie vorsichtig, Mrs. Emerson, wenn Sie das Gleichgewicht verlieren, stürzen Sie sehr tief.« Geoffrey packte mich sanft, aber entschlossen am Arm.
»Die Treppe ist zehn Meter tief«, meinte Emerson. »Dann folgt ein langer Gang mit mehreren Abzweigungen, der im rechten Winkel auf eine weitere Treppe stößt; einer dieser Seitengänge führt zu einer leeren Grabkammer. Der Plan verweist auf einen senkrechten Schacht, der vom Ende des Hauptgangs direkt an die Oberfläche führt. Dieser Eingang befindet sich …« Er legte eine Hand über seine Augen und trottete davon.
Wir folgten Emerson in westliche Richtung, wo eine tiefere Grube oder Unebenheit auf ein Öffnung deutete. »Hier ist die Stelle, wo der Stollen an die Oberfläche tritt«, dozierte Emerson. »Was befindet sich darin?« »Was soll sich darin befinden?« fragte Jack verwirrt. »Na, irgend etwas muß drin sein«, erwiderte Emerson geduldig, »sonst würden wir den Boden sehen können. Die ursprünglichen Bauherren haben ihn mit Sicherheit nicht offengelassen; das wäre ja einer Einladung zum Grabraub gleichgekommen. Stimmen Sie insoweit mit mir überein?«
»Ja, Sir, das ist naheliegend«, erwiderte Jack. »Soso. Freut mit, daß Sie mir zustimmen. Also müssen diejenigen, die den Stollen gegraben haben, ihn mit irgend etwas aufgefüllt haben, nicht wahr? Barsanti verweist auf das Mauerwerk im oberen Teil. Reisners Bericht erwähnt nichts dergleichen. Was ich mit meinen bescheidenen Mitteln in diesem Zusammenhang herausfinden will«, fuhr Emerson fort, »ist, ob das ursprüngliche Füllmaterial noch vorhanden ist – woraus es besteht – auf welche Länge der Stollen damit ausgekleidet ist – und ob der Schacht noch irgend etwas anderes beinhaltet, wie beispielsweise Opfergaben, Grabbeigaben
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