Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
bekannter Gesichter. Sie bemerkten mich ebenfalls. Einige sahen peinlich berührt weg, andere hingegen starrten mich an und tuschelten. Ich stellte fest, dass ich die einzige Frau in diesem Etablissement war. Offensichtlich waren diese heiligen Hallen für Frauen ebenso tabu wie für die niederen Kasten.
Ich fand einen Platz, von wo aus ich einen guten Blick auf das Geschehen hatte, und machte es mir bequem. Ich glaube, mein äußeres Erscheinungsbild war tadellos; ich trug ein elegantes Nachmittagskleid und meinen zweitbesten Hut. Der Sonnenschirm wirkte vielleicht etwas unpassend, denn er war größer und wuchtiger als die albernen Miniaturausgaben, welche die modebewussten Damen mit sich führten. Ich hatte in der Vergangenheit allen Grund, auf einen guten, stabilen Schirm zurückzugreifen; er bewies seine Effizienz auch diesmal wieder, denn als mich sämtliche Kellner ignorierten, hakte ich einen am Arm fest und bestellte einen Whisky Soda.
Die Gespräche, die bei meinem Auftauchen verstummt waren, wurden wieder aufgenommen, allerdings leiser. Ich nippte an meinem Whisky und schaute mich um. Ich entdeckte niemanden, mit dem ich hätte plaudern mögen. Offensichtlich wollte auch keiner mit mir plaudern. Ich war bereits eine gute halbe Stunde dort, als der Gentleman, dem ich eine kurze Notiz hatte zukommen lassen, endlich auftauchte. Er schien sich etwas unbehaglich zu fühlen, und während er noch auf der Schwelle stand, sinnierte ich, wie sehr er mich doch an einen anderen Edward erinnerte, den Stellvertreter des Meisterverbrechers, der bei mehreren Gelegenheiten bei uns gewesen war. Genau wie Sir Edward Washington war Lord Edward Cecil groß und blond, mit der leicht überheblichen Miene, die die Absolventen unserer Hochschulen auszeichnet. Zunächst entdeckte er mich nicht; dann zupfte ihn jemand am Ärmel und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf er mit einem aufgesetzten Lächeln zu mir strebte.
»Guten Abend, Mrs Emerson. Verzeihen Sie, wenn ich Sie warten ließ.«
»Keine Ursache. Es lag an mir, dass Sie meine Nachricht sehr kurzfristig erhielten, und da ich annehme, dass mein Gatte nicht mehr lange auf sich warten lässt, bitte ich Sie, meine Frage direkt und ohne Gegenfrage zu beantworten. Versucht das Kriegsministerium weiterhin, meinen Sohn zu einer Zusammenarbeit zu bewegen?«
Sein unmerkliches Lächeln verschwand. »Um Himmels willen, Mrs Emerson, reden Sie doch nicht so laut! Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Das mag ich kaum glauben, Lord Edward«, erwiderte ich brüsk. »Der Mann, den ich im Hause Ihres Bruders unter einem Decknamen kennen gelernt habe, befindet sich in Kairo. Sparen Sie sich die Frage, woher ich das weiß; ich habe meine Quellen. Er ist ein Neuankömmling und demzufolge von Interesse für die angloägyptische Gemeinschaft, und die Beschreibung, die ich Mrs Pettigrew entlocken konnte, trifft exakt auf ihn zu. Ich nehme an, er ist der neue Kopf dieser Gruppe von unorganisierten Individuen, die unseren Nachrichtendienst auszeichnen. Ich hatte Sie doch gebeten, ihn heute Abend herzubringen. Wo ist er?«
Noch nie hatte ich den unerschütterlichen Lord Edward so betreten erlebt. Sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagernd, blickte er sich unbehaglich um, räusperte sich und schwieg dann doch. Ich war mir sicher, dass er auf Ausflüchte sann, die mein Verhör beenden sollten, dennoch durfte er nicht annehmen, dass ihm das gelingen würde. Er wurde dieses Problems enthoben, als sein Blick auf einen Mann fiel, der gerade eingetroffen war.
»Aha«, entfuhr es mir. »Der geheimnisvolle Mr Smith. Vielleicht besitzen Sie die Güte, uns miteinander bekannt zu machen, Lord Edward. Ansonsten sehe ich mich gezwungen, ihn laut und deutlich mit seinem Decknamen zu begrüßen.«
»Das würden Sie tun, nicht wahr?«, murmelte Lord Edward. Er gestikulierte, fahrig und ohne seine übliche Würde. Der geheimnisvolle Mr Smith hatte uns gesehen. Sein Mund verkniff sich bis zur Unkenntlichkeit, da er jedoch einsah, dass man ihn ertappt hatte, machte er das Beste daraus. »Tut mir Leid, dass ich Sie warten ließ, Cecil«, sagte er betont höflich und verbeugte sich vor mir wie vor einer Fremden.
Lord Edward stellte ihn vor: der Ehrenwerte Algernon Bracegirdle-Boisdragon. »Angenehm«, sagte ich. »Sie sind neu in Kairo, glaube ich. Ich hoffe, es gefällt Ihnen.« Ich ließ ihm keine Zeit für eine Antwort, denn mir war gewärtig, dass er auf Ausflüchte sann. Stattdessen senkte ich die
Weitere Kostenlose Bücher