Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
auch wenn es aussah, als klebte er an der Wand fest, und seine Lippen bewegten sich – vermutlich betete er.
»Seien Sie nicht böse mit ihm«, bemerkte Miss Minton. »Er hat mir nichts gesagt, was ich nicht schon gewusst hätte.«
»Zum Teufel«, hub Emerson an.
»Emerson, nun beruhige dich doch«, riet ich. »Ich hätte damit rechnen müssen. Miss Minton, ich nehme an, dass Sie Informanten bei der Polizei haben?«
»In allen Behörden«, korrigierte sie. »Das ist gebräuchliche Praxis. Also, Professor, vielleicht wollen Sie mir mit Ihren eigenen Worten schildern, wie Sie den Leichnam entdeckt haben.«
Emerson fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Ich will auf ewig in der Hölle schmoren, wenn ich das tue!«
»Emerson, siehst du denn nicht, dass sie dich provozieren will, bis du im Eifer des Gefechts eine Indiskretion äußerst? Das ist ein alter Trick in ihrem Genre.«
Miss Mintons unerträgliches Lächeln schwand. Sie schob ihr markantes Kinn vor. »Sie irren sich, Mrs Emerson. Ich musste die Geschichte aufnehmen, sie war einfach zu delikat, um zu widerstehen, aber leider Gottes habe ich von den Behörden nichts Interessantes erfahren.«
Emersons Gesicht nahm allmählich wieder seine normale Farbe an. Er ist entsetzlich impulsiv, kann sich aber im Ernstfall beherrschen. Er merkte, worauf sie hinauswollte, und ich natürlich auch.
»Also gut«, sagte er. »Selim, du kannst gehen.«
Selim fiel ein Stein vom Herzen. Ich deutete auf eine der Packkisten, die wir als Sitzgelegenheiten benutzten. »Setzen Sie sich, Miss Minton. Lassen Sie uns nicht um den heißen Brei herumreden. Was wollen Sie von uns?«
»Eine Story, Mrs Emerson. Was ist daran Schlimmes? Halb Kairo weiß mittlerweile von dem Toten, eine solche Entdeckung lässt sich nicht geheim halten. Wenn Sie mir kein Interview geben wollen, dann vielleicht Ihr Sohn und Ihre Schwiegertochter.«
»Leider sind mein Sohn und meine Schwiegertochter nicht in Kairo.«
»Dann ist es also wahr, dass sie in Luxor sind. Warum?«
»Zum Teufel, was geht Sie das an?«, platzte Emerson heraus.
»Mach kein Geheimnis daraus«, sagte ich scharf. »Sie gönnen sich einen kleinen Urlaub und machen eine kurze Inspektionsreise zu den Monumenten in Luxor, im Besonderen dem Grab von Tetisheri.«
»Ich glaube, die Diebstähle haben zugenommen.«
»Das war unter den gegebenen Umständen zu erwarten. Je entlegener das Gebiet, umso schwieriger eine ständige Überwachung.«
»Dennoch erscheint Ihnen die Situation entsprechend ernst, dass Sie Ramses dorthin schicken. Und jetzt leiden Sie unter personellen Engpässen, nicht wahr?«
»Nein«, entgegnete Emerson. »Äh … doch, in gewisser Weise. Das ist alles eine Frage der …«
»Der Prioritäten«, unterbrach ich ihn, denn er stand im Begriff, ein Chaos anzurichten. »Wir haben Ihre Fragen offen und ehrlich beantwortet, Miss Minton.« Ich erhob mich von meiner Packkiste, um ihr zu verstehen zu geben, dass das Gespräch beendet war. »Ich vertraue darauf, dass Sie aus dem unbekannten Toten keine Sensationsgeschichte machen werden. Er hat nichts mit uns zu tun, und wir möchten vermeiden, dass Scharen makabrer Touristen uns behelligen.«
»Sie haben keine Vorstellung, warum der Mörder die Leiche in Ihrem Grab verschacherte?«
»Absolut keine.«
Sie verabschiedete sich nicht einmal. Emerson wartete, bis sie außer Sichtweite war, dann hub er an: »Gut gemacht, Peabody. Du bist eine verflucht überzeugende Lügnerin, wenn du dich anstrengst.«
»Danke, mein Schatz. Wie du weißt, greife ich nur dann zu Ausflüchten, wenn es absolut notwendig ist. Ich fürchte jedoch, dass du das Entscheidende überhört hast. Ich werde Nefret umgehend schreiben und ihr darlegen, dass sie Ramses von der Lektüre der Tageszeitungen fern halten muss. Ich hoffe nur, dass mein Brief eher in Luxor eintrifft als Miss Minton.«
»Verflucht, Peabody, ziehst du nicht voreilige Schlüsse? Wie kommst du darauf, dass sie nach Luxor fahren wird?«
»Hast du diese Fragen über die Grabplünderungen nicht verstanden? Sie glaubt, dass ich sie belogen habe, was ich selbstverständlich auch getan hätte, wenn es zweckdienlich gewesen wäre. Dieses törichte, romantische Geschöpf hofft, dass Sethos noch lebt.«
Aus Manuskript H
Die Überprüfung von Tetisheris Grab war vorrangig gewesen. Im Anschluss daran vermochte Ramses sich nicht zu entscheiden, was er als Nächstes tun sollte – oder, besser gesagt, er wusste, was er tun musste, hatte aber keine
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