Amelia Peabody 14: Die goldene Göttin
treffenden Umschreibungen amüsierten ihn stets, dennoch sagte er einsichtig und ohne die Spur eines Grinsens: »Du hast wie immer Recht, Mutter. Ich habe ihr nichts gesagt und werde es auch nie tun. Bitte erzähl ihr nichts davon.«
»Aber, Ramses, ich würde das Vertrauen eines Menschen nie missbrauchen.« Sie tätschelte seine Hand. Als er eine Grimasse schnitt, kreischte sie entsetzt auf. »Gute Güte. Ich vergaß, dass ich ja noch die Nadel in der Hand halte. Saug daran.«
Ramses gehorchte pflichtschuldig. »Was machst du da eigentlich?«, erkundigte er sich. Es gestaltete sich schwierig, das Muster von den Blutspuren zu unterscheiden. »Es ist nur, um meine Hände zu beschäftigen. Gräm dich nicht, mein lieber Junge, ich werde mit Nefret reden. Taktvoll.«
Sie bohrte die Nadel in den Stoff und faltete die Handarbeit. »Es wird höchste Zeit für das Mittagessen. Emerson verspätet sich, wie üblich!«
Er tauchte ein paar Minuten später auf, mit Sennia, und ließ sich ziemlich ermattet in einen Sessel sinken. Emerson konnte vom Morgengrauen bis in die Abenddämmerung unter der heißen oberägyptischen Sonne arbeiten, ohne Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen, doch ein paar Stunden mit Sennia strapazierten ihn aufs Äußerste. »Seid ihr fertig zum Mittagessen?«, wollte er wissen.
»Nefret ist noch nicht zurück«, sagte seine Frau. Ramses hatte ständig auf die Uhr gesehen. Es war nach eins. Sein Vater musterte ihn skeptisch. »Wartet sie vielleicht auf dich, dass du sie abholst?«
»Nein«, sagte Ramses und fuhr rasch fort, bevor sein Vater kundtun konnte, was er von Männern hielt, die ihre Frauen ohne Begleitung durch die Gassen von El-Wasa ziehen ließen. »Vermutlich wurde sie aufgehalten und verspätet sich deshalb. Geht ihr schon nach unten, ich laufe schnell zum Hospital.«
Er war nicht beunruhigt – nicht wirklich –, gleichwohl wusste sie, dass sie an diesem Abend abreisen wollten, und sie hatte gesagt, dass sie noch vor dem Mittagessen zurückkäme.
Er ging den kürzesten Weg zum Krankenhaus, der, den sie immer nahmen, und rechnete an jeder Straßenecke damit, dass sie auf ihn zugeschossen käme. Die stinkenden Gassen waren menschenleer, die Bewohner während der heißen Tagesstunden in ihren Häusern. Der Ärger, erwachsen aus seiner Besorgnis, beschleunigte seine Schritte. Sie hatte kein Recht, ihn so zu beunruhigen, nachdem er ihr zugebilligt hatte, ohne seine Begleitung zurückzukehren.
Er hatte die Klinik fast erreicht, als ihm ein Mann in den Weg trat. »Du musst mit mir kommen, Bruder der Dämonen.«
»Verschwinde, Musa. Ich hab keine Zeit, mir el-Gharbis Gejammer anzuhören.«
»Du musst!«, wiederholte sein Gegenüber. Er streckte seine Hände aus. Auf seinen Handflächen lag der dünne Schal, den Nefret am Morgen um den Hals getragen hatte.
Als er Ramses’ Gesichtsausdruck gewahrte, wich Musa einige Schritte zurück und fing an zu lamentieren. »Schlag mich nicht, Bruder der Dämonen, sie ist unverletzt, sie ist in Sicherheit, ich bringe dich zu ihr.«
»Das wirst du verdammt noch mal tun.« Ramses’ Hände schossen vor, umklammerten Musas sehnigen Arm mit einem schmerzhaften Griff. »Wo ist sie?«
»Komm. Komm mit mir, es ist nicht weit. Sie ist unverletzt, wirklich. Würde einer von uns wagen, Hand an sie –«
»Schweig. Welche Richtung?«
Sich dessen bewusst, dass ihm momentan keine Gewalt drohte, jammerte Musa: »Du tust meinem Arm weh, Bruder der Dämonen. Ich kann schneller gehen, wenn du mich loslässt. Ich werde nicht weglaufen. Man hat mir befohlen, dich zu ihr zu bringen.«
Ramses verkniff sich die Frage, wer den Befehl gegeben hatte. Er lockerte seinen Griff und wischte die unternehmungslustigen Flöhe weg, die bereits seine Hand eroberten. »Wo?«
»Diese Richtung, diese Richtung.« Musa trottete voraus, um die Ecke und durch einen Haufen Obstschalen, die er mit seinen nackten Füßen zerquetschte. »Diese Richtung«, wiederholte er und drehte sich bekräftigend nickend zu Ramses. »Hast du eine Zigarette?«
»Treib es nicht zu weit, Musa.«
Gleichwohl war er nicht länger besorgt um Nefret. Der Mann, der dafür verantwortlich zeichnete, würde ihr nichts tun. Sie landeten dort, wo Ramses es erwartet hatte: in einer besonders verdreckten Gasse hinter dem Haus, das el-Gharbi früher bewohnt hatte. Musa ging zu der kleinen, unauffälligen Tür, die Ramses von früheren Besuchen her kannte. Die Polizei hatte sie mit dicken Brettern verbarrikadiert, indes
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