Amelia Peabody 14: Die goldene Göttin
Schrecksekunden verharrte der Junge, dann rannte er los, Ramses ihm dicht auf den Fersen; indes gewann er eindeutig an Vorsprung, denn Ramses musste über den Schutthaufen klettern, der ihn von dem Weg trennte. Nefret trat aus der Dunkelheit.
»Jamil, bleib stehen!«, gellte sie. »Wir wollen dir nichts tun.«
Er war ungefähr drei Meter von ihr entfernt, nah genug, dass Nefret den Schal bemerkte, der seine untere Gesichtshälfte verdeckte. Er bückte sich, als wollte er sich hinknien, und sie dachte schlagartig, jetzt haben wir ihn.
Sie ignorierte die Warnung. Jamil straffte sich, und das Wurfgeschoss flog in ihre Richtung. Sie hatte gerade noch Zeit, sich umzudrehen und ihre Arme schützend vor ihren Körper zu werfen, sodass der Stein ihre Schulter statt ihrer Brust traf. Sie fiel zur Seite, ihre andere Schulter und ihre Hüfte prallten auf den harten, unebenen Boden. Der Sturz presste ihr den Atem aus den Lungen, und sie wand sich vor Schmerz, als Jamil vorbeispurtete. Ramses musste ihm dicht auf den Fersen sein; Augenblicke später nur spürte sie seine unverwechselbare Berührung. Sie rollte sich in seine Armbeuge.
»Geh ihm nach«, stöhnte sie.
»Zum Teufel mit ihm. Bleib still liegen. Wo tut es weh?«
»Überall.« Ihr gelang ein Lächeln. »Ist schon in Ordnung, Schätzchen, keine Knochenbrüche.«
Er reagierte mit einem kläglichen Grinsen. »Du würdest mich doch nicht anlügen, oder?«
»Nicht bei einem gebrochenen Bein.« Sie stöhnte auf, als seine Hände ihre Arme und Schultern abtasteten. »Au! Ich hab ein paar Prellungen, das ist alles.«
Sie gewahrte, dass Ramses nicht der Einzige war, der sich um sie kümmerte. Kniend, ihre Augenhöhlen dunkel in dem schmalen Gesichtsoval, zupfte Jumana ihr Gewand zurecht, zog es schicklich über ihre Waden. Es war eine überflüssige Geste, doch das Mädchen schien eindeutig unter Schock zu stehen.
Allerdings war sie nicht so schockiert, dass es ihr die Sprache verschlagen hätte. »Es war mein Fehler. Er hätte dein Gesicht treffen können, es war ihm völlig egal, ob du verletzt würdest. Ich werde zu meinem Vater zurückgehen.«
»Nein, das wirst du nicht.« Ramses hob Nefret in seine Arme und stand auf. »Du wirst uns folgen und Moonlight führen. Und du« – er blickte zu seiner Frau hinunter – »kommst mit mir, auf Risha.«
»In Ordnung«, sagte Nefret kleinlaut.
Seine dichten schwarzen Brauen zogen sich zusammen. »Du bist verletzt!«
»Zumeist an Stellen, die kaum erwähnenswert sind.« Sie streichelte seine Wange. »Im Damensitz zu reiten, ohne Hose, ist etwas, das ich in nächster Zeit nicht mehr versuchen werde.«
5. Kapitel
Emerson und ich und Sennia waren fast fertig mit dem Frühstück, als die Kinder auftauchten, gefolgt von dem Kätzchen. Ich stellte unumwunden fest, dass Nefret sich nicht mit der ihr eigenen Anmut bewegte – sie bemühte sich tapfer, nicht zu hinken. Sennia schoss aus ihrem Stuhl hoch und lief zu ihnen; bevor sie Nefret stürmisch umarmen konnte, hob Ramses sie hoch und wirbelte sie im Kreis, bis sie vor Vergnügen kreischte.
»Ist irgendetwas passiert?«, erkundigte ich mich.
Nefret ließ sich äußerst behutsam in den Sessel sinken, den Emerson ihr hinschob, und schaute mich warnend an. »Nur ein Sturz, nichts weiter. Guten Morgen, kleine Taube. Du beeilst dich besser mit deinem Frühstück, sonst kommst du zu spät zum Unterricht.«
»Ich denke, ich werde heute nicht hingehen«, tat Sennia kund. »Ich denke, ich werde hier bleiben und mich um Tante Nefret kümmern.« Sie hockte sich auf den Boden und fing an, das Kätzchen zu streicheln.
»Ich denke, das wirst du nicht tun«, erwiderte ich. »Trödel nicht rum. Du darfst Mrs Vandergelt nicht warten lassen.«
Nach einigem Hin und Her hatten wir Sennia umgestimmt; es war nicht so sehr der Unterricht, den sie »nur irgendwie langweilig« fand, sondern eher der Wunsch, bei uns zu bleiben. Emerson lenkte wie üblich ein und versprach, dass sie tags darauf mit uns nach Deir el-Medina kommen könne.
»Wir müssen aufbrechen«, drängte er. »Wo ist Jumana? Verflixt und zugenäht, das Mädchen ist immer die Letzte.«
»Ich habe sie gebeten, erst dann zu uns zu stoßen, wenn Sennia weg ist«, führte Ramses aus. »Ich glaube, da kommt sie.«
Als sie ins Zimmer schlüpfte, war mir klar, warum Ramses nicht gewollt hatte, dass Sennia sie so sah. Dem Mädchen fehlte jede Selbstkontrolle; ihre Miene und ihre Bewegungen waren ein Spiegel ihrer Empfindungen.
Weitere Kostenlose Bücher