Amelia Peabody 14: Die goldene Göttin
ganze Reihe von Aufgaben und wurde häufig mit anderen Göttinnen identifiziert, indes war sie in erster Linie Ernährerin und Beschützerin der Lebenden und der Toten. Der Verliebte flehte um ihren Beistand bei der Eroberung der Herzdame; die Kinderlose bat sie um einen fruchtbaren Schoß. Hathor wurde mit Musik und Tanz verehrt, und die Lobeshymnen auf sie umfassten einige ganz reizende, liturgische Phrasen: Gebieterin über alles Leben, Herrin des Maulbeerfeigenbaums, Goldene Göttin.
Ich schlenderte eine Weile umher, inspizierte einige der Reliefs. Einer unserer Berufskollegen hatte den Tempel vor einigen Jahren teilweise restauriert, und es gab einen anheimelnden kleinen Winkel in dem Vestibül – für meine Zwecke wie geschaffen. Wie nicht anders zu erwarten, brachte Selim prompt die von mir benötigte Ausstattung, darunter auch ein großes Stück Segeltuch. Er spurtete zu dienstbeflissen hinter Emerson her, als dass er mir hätte assistieren können, deshalb brachte ich einen der anderen Männer dazu, mir bei dem Ausrollen der Teppiche, dem Aufstellen von Stühlen und Tischen zu helfen, und neben dem Mauerwerk ein provisorisches Dach aus dem Segeltuch aufzuspannen, als Schattenspender für die Pferde. Ich hatte diese essentielle Aufgabe gerade beendet, als die anderen eintrafen. Emerson, der seine Augen überall hat, brüllte »Ramses!«, und nach einem Nicken zu mir trottete Ramses davon.
Ich landete wie üblich auf dem Schuttabladeplatz. Ich will die Bedeutung dieser Aufgabe nicht herabwürdigen, ist es doch das Ziel eines kompetenten Exkavators, jede Scherbe aufzuspüren, mag sie auch noch so belanglos scheinen. Unsere Männer waren sehr gut ausgebildet, dennoch, wenn man Sand und Geröll wegschaufelt, übersieht man leicht etwas. Von daher war es meine Aufgabe, den Inhalt der Körbe zu sieben, die die Arbeiter mir brachten. Dies stellte sich als interessanter heraus als für gewöhnlich, da der vorherige Exkavator nachlässig gewesen war. Ich fand einige aufschlussreiche Scherben, Täfelchen aus Kalksandstein mit hieratischen Symbolen. Ich setzte ein paar zusammen, als ich mich unbeobachtet wähnte, konnte aber nur wenige Zeichen deuten. Als wir unsere Mittagsrast einlegten, händigte ich sie Ramses aus. Die altägyptische Sprache war sein Spezialgebiet, so wie die Exkavation für Emerson, und er reagierte genauso überschwänglich wie mein Göttergatte angesichts seiner verfluchten Hütten. Während des Essens brachten wir kein Wort aus ihm heraus. Nefret musste ihn mehrmals anstupsen, damit er das Kauen nicht vergaß.
»Was sagen die Scherben aus?«, erkundigte ich mich. »Hmmmm?«, war seine einzige Reaktion.
Nefret schob ihm eine Locke aus der Stirn, und er bedachte sie mit einem abwesenden Lächeln, bevor er sein Augenmerk wieder auf die Tonscherbe richtete. Ich verstand ihre zärtliche Geste. Versunken in eine Aufgabe, die ihn beflügelte und begeisterte wie keine andere, wirkte er so glücklich wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. Dies war seine Berufung, also genau das, was er für den Rest seines Lebens tun sollte, ungeachtet von Verbrechen und Krieg.
Allerdings kannte ich meinen Sohn und wusste, dass die Chancen dafür gering standen, und ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass es nicht allein meine Schuld war, wenn er ständig in Schwierigkeiten geriet. Nach den neuesten psychologischen Erkenntnissen brauchte er wohl einen gewissen Nervenkitzel, sonst hätte er sich nicht so bereitwillig auf Gefahren eingelassen. Jedenfalls war dies eine Abwechslung von den Hieroglyphen.
Nach einem langen, harten Tag Arbeit hatten wir Kuentz’
Schutthaufen abgetragen, und Emerson begann mit dem Vermessen des Geländes. Dabei handelte es sich um ein beschwerliches und zeitaufwändiges Verfahren, welches manche Archäologen vernachlässigten, das Emerson aber für unumgänglich hielt. Falls Kuentz etwas Vergleichbares gemacht hatte, so hatte er jedenfalls keine Aufzeichnungen hinterlassen. (Emerson hätte ohnehin alles neu dokumentiert.)
Jumana war wieder guter Dinge, freundlich, interessiert und hilfsbereit, und selbst Ramses räumte ein, dass sie eine große Unterstützung sei. Eigentlich brauchte sie während der Vermessungsarbeiten nur einen Zollstock zu halten; dies war eine ziemlich langweilige Aufgabe, und trotzdem befolgte sie gewissenhaft alle Anweisungen.
Natürlich hatte ich ein wachsames Auge auf sie. Es gab zwei mögliche Erklärungen für ihre wiederhergestellte gute Laune; entweder
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