Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
möbliert – mit rotem Plüschsofa, mehreren zerschlissenen Polsterstühlen, einem großen Schreibtisch und zwei altersschwachen Holzschränken. Unter einem Fenster stand ein langer Tisch mit einer Baumwolldecke, die Ayyad kurzerhand herunterriss.
Bei Ägypten denkt man zwangsläufig an Mumien. Indes hat ein unbestatteter Toter wenig Chancen auszutrocknen, da sich Aasgeier, wilde Hunde, Schakale und Insekten auf ihn stürzen. Von dem vorliegenden, bedauernswerten Exemplar war bis auf ein paar abgenagte, gesplitterte Knochen nichts mehr vorhanden. Als sich Nefret nachdenklich darüber beugte, sagte Ayyad: »Sie lagen überall verstreut, und trotz intensiver Suche haben wir nicht alle gefunden.«
Auf seine entschuldigende Bemerkung reagierte Nefret mit dem erhofften Kompliment. »Sie haben sie korrekt angeordnet«, erwiderte sie ohne aufzublicken. »Ich bin beeindruckt, dass Sie so viele gefunden haben. Die kleinen Hand- und Fußknochen fehlen, aber das ist nichts Ungewöhnliches in solchen Fällen. Einige Rippen …« Während sie sprach, nahm sie ein Maßband aus ihrer Rocktasche. »Ohne Fußgerippe kann ich seine Größe nur schätzen.«
»Schätzen, wie?«, fragte Ayyad und trat näher.
»Dafür gibt es Tabellen. Ich kann sie Ihnen gelegentlich zeigen, wenn Sie mögen.«
»Sie sagten ›seine‹. Woher wissen Sie das?«
»Aber das wussten Sie doch bereits.« Sie grinste ihn sachverständig an, wie einen Berufskollegen. »Von der Kleidung her. Europäische Kleidung – Stoffreste von Hose, Weste und Jackett – hat man uns mitgeteilt.«
»Richtig, sie waren in diesem Karton. Aber es gibt doch noch andere Bestimmungskriterien – anhand der Knochen, oder?«
Darauf hielt Nefret ihm einen kleinen Vortrag, dem er aufmerksam lauschte. »Der Schädel deutet ebenfalls auf einen Mann hin«, konstatierte sie. »Sehen Sie die Knochenwülste über den Augenhöhlen? Bei Frauen sind sie meist weniger ausgeprägt, und der Kieferknochen ist ausladender.«
»Alter?«, drängte Ayyad.
»Kein Jugendlicher, aber auch kein alter Mann. Dies allerdings unter Vorbehalt. Basierend auf dem Gebiss. Die vier hinteren Molaren sind vorhanden und schon etwas abgenutzt. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Diese grässlichen Schakale haben nur wenig von ihm übrig gelassen.« Beide hatten Englisch geredet, und er unterhielt sich so angeregt mit ihr wie mit einem Mann. Ich hatte Verständnis für seine Wissbegier, doch die Zeit drängte, genau wie mein merklich nervöser Gatte.
»Das reicht, um seine Identität zu bestimmen«, entschied ich, Ayyads nächster Frage vorgreifend. »Es ist Martinelli. Seht euch die Zähne nur an!«
Braun-gelblich grienten die unteren Schneidezähne aus fleischlosen Lippen zu uns auf.
Die Reste von seiner Kleidung bestätigten meine Identifizierung. Der ausgeblichene Wollstoff hatte exakt das Muster der Hose, die Martinelli am Abend seines Verschwindens getragen hatte. Ansonsten befanden sich in besagtem Karton nur einige Knöpfe und Metallschnallen. Seine auffällige Krawattennadel, Taschenuhr und Kette fehlten – genau wie die Goldarmbänder und das Pektorale.
Sethos bewahrte uns vor weiteren Diskussionen um den Knochenfund. Als ein Bekannter des Toten mühte er sich betont mannhaft, seinen Schock über die fatale Enthüllung zu überspielen. »Wie oft habe ich ihn vor den Gefahren seiner langen, einsamen Wanderungen gewarnt«, murmelte er, ein blütenweißes Taschentuch vor seine Augen pressend. »Er hatte ein schwaches Herz; er muss zusammengebrochen und gestorben sein, da draußen in der Wildnis, unter einem kalten, gnadenlosen Mond, und es dauerte nicht lange …« Er schauderte. »Möge er in Frieden ruhen.«
Am liebsten hätte ich ihm einen ordentlichen Stoß mit meinem Schirm versetzt, doch er hielt klugerweise Abstand.
Nachdem wir uns bereit erklärt hatten, die sterblichen Überreste abzuholen und die entsprechenden Behörden zu informieren, verließen wir das Büro. Den Platz vor der Polizeistation säumten eine Moschee, eine römischkatholische Kirche und zwei Hotels. Hübsche Blumenrabatten verströmten ihren Duft, eine angenehme Ablenkung nach dem eben Gesehenen.
»Dies wirft ein völlig neues Licht auf die Dinge«, bemerkte ich. »Martinelli hat Luxor nie verlassen. Er muss noch in der Nacht seines Verschwindens ermordet worden sein.«
»Du weißt doch gar nicht, ob es Mord war«, grummelte Emerson. Wie üblich mochte er nicht zugeben, dass ich den korrekten Schluss gezogen hatte.
»Ein
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