Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
Mann wie Martinelli unternimmt keine langen, einsamen Wanderungen«, versetzte ich. »Irgendjemand hat ihn gewaltsam oder unter einem Vorwand dorthin gebracht und getötet. Ich habe den starken Verdacht, dass es Mord war. Das mit der Herzschwäche hast du doch erfunden, oder?«
Mein Schwager grinste mich schulterzuckend an. »Warum noch mehr Verwirrung stiften? Die Behörden gehen von einem tragischen Unfall aus. Woran ist er denn nun gestorben, Nefret?«
Sie zuckte unmerklich zusammen und sah ihn versunken an. »Dir entgeht wirklich nicht viel.«
»Dein hübsches Gesicht spricht Bände, meine Liebe. Irgendwas mit den Halswirbeln, oder?«
»Ich würde es vor Gericht nicht beeiden wollen, aber er könnte stranguliert worden sein. Oder«, versetzte sie grimmig, »man hat seinen Kopf an einem Felsen zertrümmert – unmöglich zu sagen, ob die Frakturen post oder prae mortem waren – vielleicht wurde er auch vergiftet oder erwürgt oder erschossen!«
Ich fasste ihre Hand. »Sollen wir uns im Savoy eine schöne Tasse Tee genehmigen?«
»Nein, zum Donnerwetter!« Emerson beschleunigte seine Schritte. »Ich habe zu tun. Wir müssen Cyrus informieren. Das übernimmst du, Peabody.«
»Wenn Diebstahl das Motiv für den Mord war …«, begann ich.
»Was für ein Motiv denn sonst?«, erregte sich Emerson. »Der Fellache, der die sterblichen Überreste fand, hätte sämtliche Wertgegenstände mitgehen lassen, wahrscheinlicher ist jedoch, dass Martinelli ausgeraubt wurde, weil er in den Cafés und Bars mit diesen Juwelen geprotzt hat. Ihr Wert war hoch genug, um auch vor einem Mord nicht zurückzuschrecken. Die Schatulle, die er bei sich trug, liegt vermutlich mit Steinen gefüllt im Nil. So hätte ich sie jedenfalls entsorgt«, schloss Emerson. Er packte meinen Arm und zerrte mich an den Geschäften vorbei.
Sein offensichtlicher Widerwille, die Diskussion fortzusetzen, hielt mich nicht davon ab, im Stillen zu spekulieren. Seine Theorie (unsere, sollte ich wohl besser sagen) stimmte vermutlich, aber was war dann aus dem Schmuck der Prinzessinnen geworden? War er noch im Haus des Diebes, in einem geheimen Versteck, wie es der alte Abd el Hamed unter dem Fundament seines Hauses ausgehoben hatte? War er an einen der Händler in Luxor verkauft worden? Letzteres schien mir unwahrscheinlich. Der Schmuck war auffällig, Besitzer und Herkunft weithin bekannt; wäre er einem Käufer angeboten worden, hätten wir früher oder später davon erfahren, und Emerson hätte sich wie eine Harpyie auf den unseligen Händler gestürzt. Vielleicht traf unsere ursprüngliche Theorie zu: Die Juwelen waren nach Kairo gebracht worden, aber offensichtlich nicht von Martinelli.
Am Spätnachmittag saß ich allein auf der Veranda, ich wartete auf Sethos und seine Tochter. Ich war dankbar für diese Phase der Reflexion. In Kürze würde die gesamte Familie – et quelle famille! – mich umringen, und obschon ich normalerweise eine Flut von Problemen bewältigen kann, hatte ich Konzentrationsschwierigkeiten. Mein Verstand flatterte wie ein Schmetterling von einem Gedanken zum nächsten, manche wichtig, andere völlig unbedeutend. Was ich auf der Fantasia anziehen wollte, fiel in die zweite Kategorie, genau wie das Abendmenü, das bereits mit Fatima abgesprochen war, und das Ostrakon, das ich am Nachmittag gefunden hatte – ein weiteres Fragment zu dem, welches Ramses in Verlegenheit gebracht hatte. Die Darstellung der unteren Extremitäten mutete wirklich erstaunlich an, doch mein Sohn lehnte jedwede Stellungnahme ab.
Angestrengt versuchte ich, meine Überlegungen auf das Wesentliche zu fixieren. Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Cyrus von Martinelli zu berichten. Ich hatte auch keine Eile, die Vandergelts zu sehen, da wir uns bislang nicht darauf geeinigt hatten, was wir Cyrus über Sethos erzählen sollten. Alle drei wussten um seine Verwandtschaft mit Emerson. Selim war als Einziger in Luxor ebenfalls darüber aufgeklärt, allerdings ahnte er nicht, dass die graue Maus Sethos’ Tochter war. Oder doch?
Ich hatte Kopfweh. Dummerweise hatte Emerson mich ins Ausgrabungsgelände geschleift, bevor ich meinen Schwager festnageln konnte. Wir hatten ihn in Luxor zurückgelassen, wo er noch ein paar Sachen kaufen und dann seine Tochter holen wollte. Sie sollten direkt zu uns kommen und waren bereits überfällig. Gut möglich, dass es nicht so einfach gewesen war wie von Sethos vermutet. Mrs. Fitzroyce könnte logischerweise den Aufstand
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